DayZ bricht mir das Herz

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Dieser Text erschien zuerst für WASD#5 und im Anschluss für SpiegelOnline. Fotos von Elfi Sigl.

Es fällt mir schwer, DayZ zu spielen. Nicht wegen der Zombies, die diese Survival-Sandbox bevölkern, und auch nicht wegen der menschlichen Mitspieler, die sich hier noch mehr gegenseitig Wolf sind als anderswo. Ich wandere in der mir so gut bekannten goldenen Spätherbstnachmittagssonne auf einen Waldrand zu, überquere ein Feld oder blicke von einem eben erklommenen Hügel zurück auf die sanft geschwungene, bewaldete Welt hinter mir und es geschieht: Ein leichter Schwindel der Desorientierung, ein trockenes Gefühl im Mund, das plötzliche Bemerken, wie mir das Herz bis zum Hals pocht. Es ist ein Gefühl der Traurigkeit, der körperlichen Sehnsucht und eines abstrakten Abschiedschmerzes. Es ist ein Gefühl von Heimweh.

DayZ bricht mir das Herz.

Die meisten virtuellen Landschaften sind künstliche Schöpfungen, geplant und designt, um ihre Spieler zur Durchquerung aufzufordern. Die Inseln von Far Cry, die nordischen Weiten von Skyrim, die Endzeitsteppen von Fallout: Alles künstliche Welten in dem Sinn, dass sie von Gamedesignern erdacht, nach Kriterien des Spiels aus Landschaftsschnipseln zusammengestellt und mit einem Auge für Ästhetik und Unterhaltung kultiviert wurden. Deshalb gehen in Skyrim auch die majestätischen Hochebenen der Tundra nach wenigen hundert Metern elegant und praktisch in eisige Vorgebirge und schließlich, wieder ein paar Minuten Fußweg weiter, in alpine Gebirgszüge über: Wir Spieler sind Westentaschenwelten gewohnt, die auf praktischer Größe das Maximum an Abwechslung ermöglichen.

DayZ ist anders. Es ist kein Zufall, dass die Welt von Chernarus sich so organisch anfühlt, dass die Landschaften im Spiel keine Künstlichkeit verströmen. Denn es gibt diese Landschaft wirklich. Es ist ein Landstrich in der Größe von 15 mal 15 Kilometern, der von den tschechischen Entwicklern Bohemia Interactive bis hin zu kleinsten Details, bis hin zu Gebäuden, Baumgruppen und Wegen ins Spiel übernommen wurde. Da, wo in ArmA2 und in DayZ die Küste verläuft, begrenzt in der Realität im Norden Tschechiens die Elbe ein Gebiet, das der Welt hinter dem Bildschirm so ähnlich sieht, dass sich Einheimische im Spiel problemlos orientieren können und Spielbegeisterte mit Survivalverkleidung einem zweifelhaften Tourismus frönen. Das von Untoten überrante Elektrozavodsk heißt in der Realität Povrly, Chernogorsk ist Ústi nad Labem-Neštěmice. Von Dresden kommend braucht man mit dem Auto etwa eine Stunde, um in diese für Spieler von DayZ aufregend bekannte, phasenverschobene Realität zu gelangen.

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Was die reale Welt von der Welt der Zombieapokalypse in DayZ am meisten unterscheidet, ist - natürlich - die fehlende Apokalypse. Die Landstraßen, die in DayZ leer und wegen Banditen gefährlich sind, sind real normale, von Kleinwagen und stinkenden Lkws befahrene Verkehrswege, auf den Feldern tuckern Traktoren und weidet Vieh. Die Städte und Dörfer sind voll mit Menschen, die ihrem Alltag nachgehen, und nicht die leeren, traurigen Hüllen, von deren ehemaligen Bewohnern nur Zeichen und Spuren übrig sind; offene Schranktüren, leere Betten, zerbrochene Fensterscheiben. Und doch ist es diese leere Welt der Apokalypse, die ich nur allzu gut kenne und die mir den Hals zuschnürt.

Ich bin im Schatten des Eisernen Vorhangs aufgewachsen, 20 Kilometer südlich der Grenze zur damaligen Tschechoslowakei. Weit entfernt von Povrly, und doch in einer Landschaft, die jener von DayZ zum Verwechseln ähnlich sieht. Die böhmische Masse, der Böhmerwald - Begriffe aus dem Geografieunterricht, die beim ersten Blick unweigerlich klar machen, dass Grenzen, und seien es Eiserne, nur Hirngespinste sind und nicht für Landschaften, Herbstlicht, Hochwald und sanft geschwungene Hügel Bedeutung haben. Die Landschaften meiner Kindheit sind jenen nördlicheren aus DayZ so ähnlich, dass ich beim Eintauchen ins Spiel fast den Wald rieche, die Herbstkühle im Schatten der Nadelbäume spüre, die Findlinge mitten im Wald aus den Abenteuern meiner Kindheit wiederzuerkennen glaube.

Doch es sind die leeren Häuser, die zerbrochenen Fensterscheiben und die stummen Dörfer, die mich mit Trauer erfüllen. Ich bin 20 Kilometer südlich einer toten Zone aufgewachsen, mit dem Rücken zu einer Grenze, an der die Welt endete, und dahinter überwachsene Felder, leere Häuser mit blinden, ausgeschlagenen Fenstern und Wachtürme hinter Stacheldraht. DayZ, mit seinen entvölkerten, trauernden Siedlungen, in einer Landschaft, wie sie mir immer als Heimat erscheinen wird, erfüllt mich mit einem unmittelbaren, persönlichen Schmerz des Mitleids.

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Meine Großmutter war 16 Jahre alt, als sie die 40 Kilometer nach Süden an den Ort meiner Geburt vertrieben wurde, und sie und ihre Geschwister und Eltern waren überzeugt, dass alles nur ein vorübergehendes Missverständnis als Endpunkt einer Zeit des Wahnsinns sein könnte. Ihre Heimat, ihr großer, mächtiger Bauernhof, den ihre Familie seit Jahrhunderten bewohnt hatte, verschwand hinter der Grenze. Sie und die anderen Sudetendeutschen blieben als relativ belanglose Leichtgeschädigte der großen Katastrophe des Zweiten Weltkriegs dort, wo man sie im gewaltsamen Aufräumen nach Kriegsende hingeschubst hatte, in Blickweite und dennoch hoffnungslos unerreichbar weit entfernt von ihren Küchen, Ställen, Kirchen. Sie warteten ihr Leben lang vor dieser verschlossenen Tür, an der Grenze, hinter der ihre Heimat verschwunden war.

Die Grenze war unheimlich und gefährlich. Obwohl die Landschaft diesseits wie jenseits der unsichtbaren Linie dieselbe war, nämlich jene, wie sie auch in DayZ bei mir für bitteres Heimweh sorgt, markierte der Stacheldraht den Beginn eines gewaltigen, unüberblickbaren zwölf Kilometer breiten Grenzstreifens, in dem eine unheimliche Leere herrschte wie nach einer Katastrophe. Die Güterwege, die auf unserer Seite stumm und ängstlich entlang dieser Grenze verliefen, erlaubten den Einblick in eine entvölkerte Todeszone, in der, wie sich später herausstellte, mehr Menschen ums Leben kamen als entlang der viel längeren innerdeutschen Grenze. Es war, so erfuhr man später mit Schaudern, die tödlichste Grenze des Kalten Krieges. Auf diesem leblosen Streifen mit der fast obszönen Ähnlichkeit zum Chernarus aus der fiktiven Apokalypse in DayZ fanden im Lauf der Jahre mehr als 700 Menschenleben zwischen sanften Hügeln und lichten Wäldern ihr Ende.  

Überwachsene Wege, rostige Schilder; in Grenznähe die Schutthaufen geräumter, planierter Dörfer, weiter weg die kalten, kauernden Ruinen verlassener Dörfer und Bauernhöfe mit gähnenden Fensterhöhlen, aus denen Gesträuch wuchs; hier war die Apokalypse bereits passiert, und das ganz ohne Atomkrieg oder gar Zombies. Hier, 20 Kilometer von meinem Kinderzimmer entfernt, lag stumm im kalten Herbstlicht der Kadaver einer der kleineren Katastrophen des blutigen vergangenen Jahrhunderts.

Ich erinnere mich deutlich an das eine Mal, als meine Großmutter, zu jenem Zeitpunkt schon längst in ihrem neuen Leben verwurzelt, einen letzten, nahen Blick auf ihre verlorene Kindheit werfen wollte. Die Grenze war ein direkter Schauplatz des Kalten Krieges, die Wartezeit im kalten Auto lang, die Blicke der Grenzsoldaten prüfend, argwöhnisch, Maschinengewehre im Anschlag. Es war - natürlich - ein Herbsttag, recht früh, als wir die leere Zone durchfuhren, vorbei an die Straßenränder zäumenden Stacheldrahtgirlanden, hinter denen außer wuchernder Natur nur Ruinen, Panzersperren, verminte Streifen und die Wachtürme der Grenzpatrouillen zu sehen waren. Direkt hinter dieser Zone des Irrealen schlief der Bauernhof meiner Großmutter, und sie weinte, als sie von weitem die Dächer, Obstbäume und Feldwege ihrer Kindheit wiedersah, wo von weither angesiedelte Fremde argwöhnisch hinter den Gardinen hervorsahen. Da war kein Zorn, nur Traurigkeit, und ich umarmte sie, ohne zu verstehen. Ich weiß nicht, ob ich sie trösten konnte, mit meinem Unverständnis, meiner zehnjährigen Hilflosigkeit. Wir fuhren nach Hause, zurück von dieser taubmachenden Zeitreise, vorbei an Hügeln, Wäldern, Wiesen; vorbei an verlassenen Dörfern, Häusern mit leeren Betten, offenen Kästen, blinden Fenstern, verwilderten Vorgärten, in denen die greisen Apfelbäume von Unkraut überwuchert waren.

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DayZ bricht mir das Herz. In seinen verwilderten Feldern, seinen sanften Hügeln und Wäldern sehe ich wehmütig die Landschaften meiner Kindheit; in seinen verlassenen Ruinen, Dörfern und leeren Straßen haucht mich durch die schier sprachlos machende Ähnlichkeit der Landschaft die Kälte eines Schmerzes an, der in der Gestalt meiner Familie und vieler anderer Familien real war und nun, nach und nach, ausstirbt. Als vor wenigen Monaten, zwei Jahre nach dem Tod meiner Großmutter, auch ihre ältere Schwester begraben wurde, stand ihr letzter, jüngster Bruder, das letzte der Geschwister, die diese Heimat geteilt hatten, neben mir in der Aufbahrungshalle und sang, mit der hohen brüchigen Stimme der Greise eines dieser Lieder aus der Heimat mit, vom Böhmerwald, von Vertreibung, von Heimweh, vielleicht zum letzten Mal.

Die Grenze von damals ist heute dem viel banaleren Horror von Zahnarztfilialen, Tankstellen und Grenzbordellen gewichen; die Todeszone von einst ist aus der realen Welt verschwunden. Im Spiel existiert sie weiter, auch wenn es ohne Absicht geschieht, als unheimlicher, ahnungsloser Zwilling einer düsteren Vergangenheit. Ich betrete DayZ, diese gemeine, lakonische Sandkiste menschlicher Grausamkeit, und es passiert: ein leichter Schwindel der Desorientierung, ein trockenes Gefühl im Mund, das plötzliche Bemerken, wie mir das Herz bis zum Hals pocht. Es ist ein Gefühl der Traurigkeit, der körperlichen Sehnsucht und eines abstrakten Abschiedschmerzes. Es ist ein Gefühl von Heimweh. Es ist ein Gefühl von Mitleid.

Man vergisst, dass es nicht nur eine Apokalypse gibt, sondern unendlich viele; und sie alle hinterlassen verstörte Geister, kaputte Leben und Menschen, die nach dem Ende ihrer Welt noch immer da sind. Entwurzelte, geflohen, in Wartezimmern sterbend; Wiedergänger, tot und doch rastlos. Wie in DayZ stolpern sie ruhelos um die früheren Orte ihres verlorenen Glücks. Körperlos kratzen sie noch viel später an den Türen, hinter denen ihr früheres Leben lag.

Und die Nachmittagssonne taucht die sanften Hügel und Wälder in klares Licht, wie immer.

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