Bioshock: Infinite - Ein Quantenmärchen

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Prolog:

Es wäre eine lohnenswerte Aufgabe, die Geschichte des First-Person-Shooters als Spiegelbild des globalen Unterbewussten zu analysieren, oder zumindest als Ausdruck eines kleinen, westlichen, sehr speziellen Subsets des kulturellen gesellschaftlichen Geistesmilieus.

Es braucht nicht viel Fantasie, um George Bush und den War on Terror mit Modern Warfare zusammenzudenken - verschwistert mit 24, das im Übrigen auf schizophrene Weise genau so reaktionär ist, wie alle das meinen, die es sich nie ansehen würden, und zugleich so zynisch reflektiert, dass man schon wieder Respekt davor haben muss: Beide Pop-Produkte, CoD wie 24, spiegeln jene Jahre wider, in denen auch intelligente Menschen der abgeklärt-gehässigen Realpolitik verfielen, weil sie keine Wahl sahen. Gibt es eine schönere Parallele als jene zwischen neokonservativer Real(öl)politik und Schlauchdesign mit integrierter zynischer Zitatedrescherei, zwischen technischem Overkill durch den Death from Above bei gleichzeitiger maximaler Unübersichtlichkeit aus der Froschperspektive?
758Ein Bild fürs Gaming nach 9/11: CoD

Oder in der Far Cry-Reihe, in der sich weniger eine gesellschaftliche als vielmehr eine individuelle Wandlung zeigt, vom Kind zum Teenagerrebellen bis hin zur ersten Post-Education-Crisis Anfang, Mitte 20: Vom eigentlich heiteren, ja unschuldigen Fantasy-Horrortrip des ersten Teils, in dem vom Setting bis zum Hawaiihemd alles Eskapismus atmet, über Teil 2, dessen düsteres Zitieren von Conrads Heart of Darkness der kindlichen Leichtigkeit den Rücken kehrte, bis hin zu Teil 3, der zwar seinem Schreiber zufolge von der Identitätskrise seiner Millennial-Zielgruppe selbst handeln soll, stattdessen aber selbst, als wild zusammengewürfelter Haufen von nach Aufmerksamkeit schreienden Zielgruppenmaximierungsversuchen, die Identitätskrise der AAA-Branche wiedergibt?

Vom tatsächlichen virtuellen Urlaub im Inselparadies über eine abgefuckte Politthrillersafari mit abgeklärtem Fatalismus bis hin zu einer angeblichen Mediensatire, die ihrerseits ihren Rezipienten abgeklärten Fatalismus unterstellen wollte, das aber vor lauter Rummelplatz nur bedingt schafft - da sage noch einer, dass ein Medium, in dem Kopfschüsse an virtuellen Menschen eine Hauptrolle spielen, keine Analyse wert sind.

Prolog Ende.

759Bioshock: Entscheidungsfreiheit, und dann doch nicht.

Bioshock und Bioshock: Infinite nehmen eine interessante Rolle in einer derartigen Betrachtungsreihe ein, denn wo Modern Warfare eine plumpe Karikatur von FOX News-Geopolitik und patriotischen Realismus(c) vortäuscht und eine flache Schießbude und Propaganda anbietet; wo Far Cry angeblich Kolonialismusgeschichte behandelt und von seinem Autor in Interviews als tiefsinnige Mediensatire gerechtfertigt wird, aber eigentlich vom Urlaub handelt; da erzählt uns Ken Levine von Schlössern in den Wolken oder auf dem Meeresboden, lässt uns Bienen und Raben aus den Händen zaubern und spricht dennoch von Soziologie, Philosophie, Politik und Revolution.

In Bioshock geht es um die Frage nach der Möglichkeit, sich frei zu entscheiden, sein Schicksal selbst zu bestimmen.

In der Bioshock-Reihe geht es dann auch um nichts weniger als die Frage nach der Möglichkeit, sich frei zu entscheiden, sein Schicksal selbst zu bestimmen - und wie weit man als Mensch dem eigenen Selbst und wie weit seinen Mitmenschen verpflichtet ist. Andrew Ryan, der Errichter der untergegangenen Gesellschaftsutopie Rapture, ist in Teil 1 als Beinahe-Anagramm der SF-Autorin Ayn Rand eine eminent politische Figur; wer wissen will, wie Ayn Rands Ideen die US-amerikanische Politik des 20. Jahrhunderts geprägt haben, sei eindringlich auf Adam Curtis' fantastische Dokureihe "All Watched Over By Machines of Loving Grace" verwiesen. Ken Levine erteilt in Bioshock diesem sehr amerikanischen Mythos vom Do-it-yourself-Übermenschen eine grotesk überzeichnete Absage, dessen "Greed is Good"-Mentalität als glorifizierter Egoismus nur in den Wahnsinn münden kann.
763Bioshock: Objektivismus und Neoliberalismus im Abgrund

Im Rückblick kann man etwa den ersten Teil aus dem Jahr 2007 auch als düstere Parabel auf die sich bereits abzeichnende reale Krise des Finanzsystems sehen. Die politische Utopie der Unterwasserstadt Rapture beruhte immerhin auf dem von Ayn Rand und so manchen Marktphilosophen vehement vertretenen Freiheitsversprechen des Laissez-Faire-Kapitalismus, in dem der Mensch, befreit von allen moralischen und staatlichen Einschränkungen, nach objektiven Gesetzmäßigkeiten durch seinen Egoismus automatisch zum Wohl aller handeln würde. Das grandiose Scheitern dieses Projekts war die Kulisse des ersten Teils, die (Un-)Möglichkeit freier Willensentscheidung das Thema, das - klar - in einem interaktiven Medium noch zusätzlich besondere Bedeutung erlangte.

Bioshock 2 verdüstert die inzwischen bekannte Kulisse noch weiter und variiert das Thema: Zehn Jahre später ist Rapture eine Ruine, ein zerfallendes Monument des Größenwahns. An die Stelle des Industriellen Andrew Ryan tritt die Psychologin Sofia Lamb, die mit ihrer esoterischen Mischung aus Kommunismus und Kollektivismus-Heilslehre die radikale Abkehr vom Kult des Individualismus predigt - ihr tritt der Spieler als "Big Daddy" Delta entgegen, ein Perspektivenwechsel, der die Stahlkolosse aus Teil eins zum Protagonisten auf der Suche nach einer, seiner eigenen Tochter macht.

762Bioshock 2: Religiöser Kollektivismuswahn

Es ist die Pointe von Bioshock 2, dass der kollektivistischen Gesellschaftsphilosophie in Gestalt des Spielers ein Gegenmodell geboten wird: In dem verqueren Patchwork-Familiendrama stiftet die morbid-vertraute Beziehung zwischen "Big Daddy" und "Little Sisters" den Sinn, der der gewohnt mordlüsternen Bewohnerschar Raptures in ihrem Sektenwahn fehlt. 

Ist Bioshock 1 somit dem absehbaren Zusammenbruch des Gier-Kapitalismus gewidmet, problematisiert Teil 2 - an dem Ken Levine übrigens nicht beteiligt war - den jedem Amerikaner ohnedies suspekten Kollektivismus, der in Form von Sofia Lambs Psychosekte, die den Egoismus abschaffen will, als überdrehte Antipode zu Ryans Objektivismus ebenso zu verdammen ist. Objektivismus, Kollektivismus, alles dem Menschen nicht adäquat - es ist nicht das Politische, das Großgesellschaftliche, sondern stets die Familie, das intim Persönliche, in dem sich unsere Leben erfüllen.

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Warnung: Ab hier Infinite-Spoilers!

Natürlich sind beide Szenarien holzschnittartige Skizzen, die hauptsächlich deshalb bei Spielern so viel Eindruck hinterlassen haben, weil man - geben wir's zu - im Medium Spiele schon in Freudentränen ausbrechen muss, wenn einmal nicht alle Klischees aus der C-Movie-Ecke zum Einsatz kommen. Bioshock Infinite geht in gewisser Weise nun sogar wieder einen Schritt hinter die beiden Vorgänger zurück: Die Entscheidungsfreiheit zwischen den beiden wiederum als gleich abstoßend gezeichneten Kontrahenten - zwischen dem rassistisch-patriotischen Religionsfundamentalismus von Zachary Comstock und dem barbarisch wütenden Anarcho-Kommunismus des entfesselten Vox Populi - ist dem Spieler abgenommen, die Überzeichnung beider Extreme lässt jede Frage nach den jeweiligen Standpunkten illusorisch werden.

Infinite nimmt die Frage nach der Willensfreiheit sozusagen offiziell ganz aus der Spielerhand.

Levine verlagert die Frage aus Bioshock 1 - Können wir uns frei entscheiden? - diesmal auch formal in die Narration und nimmt sie somit gleich sozusagen offiziell ganz aus der Spielerhand. Das ist konsequent, denn immerhin hatte Bioshock 1 ja auch - eine der IMHO als Cutscene vertanen Chancen des Spiels - als zentrale Szene die Verneinung der Willensfreiheit, sozusagen den von mir schon wiederholt thematisierten digitalen Determinismus demonstriert: Wir schlagen Ryan dank der magischen Worte ganz automatisch per Cutscene den Schädel ein. Konsequenter wäre es gewesen, auch hier den Spieler selbst zuschlagen zu lassen - ich wette, jeder hätt's früher oder später getan.  Entscheidungsfreiheit täuschte Teil 1 selbst nur in seiner letztlich belanglosen Entscheidung zwischen "Ernten" und "Retten" der Little Sisters vor - und wie bei Mass Effect 3, nur ohne den Shitstorm, gab's dafür am Ende drei verschiedenfarbige Cutscenes zu sehen. Tja. 

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Infinite nun lässt diese unwürdige Scharade fallen und bleibt letztlich völlig linear - dafür kreist es vielmehr thematisch, in seiner gesamten Erzählung um den Moment der Entscheidung. Die Quantenphysik, jenes esoterische Allheilmittel für Plotholes aller Größen, macht's möglich, dass wir am Ende trotz wiederholter Kehrtwenden, unlogischer Auflösungen und völlig haarsträubender, jeder Ratio widersprechender narrativer Auffahrunfälle mit offenem Mund dasitzen und uns dennoch nicht betrogen fühlen - ein nicht zu verachtendes Kunststück.

Infinite zeigt, wie sich, je nach Entscheidung, die Welt in Parallelen aufspaltet: Hier Booker, der wiedergetauft als Comstock zum Tyrannen wird; da Booker, der die Taufe verweigert und dadurch gezwungen wird, seine Tochter der Paralleldimension zu verkaufen. Die Vermittler zwischen diesen Welten sind die Lutece-Geschwister, ein quantentechnisch aufgespaltetes Transgenderphänomen und Running Gag des Spiels, und auch Rapture findet Platz in einer grandiosen Schlusssequenz, die so viel von großem Kino hat, dass man sich als Spieler fast unweigerlich ein bisschen ums eigene Medium fürchten muss: Das ist zweifellos meisterhaft, und es ist ohne Frage eine auch philosophisch und thematisch stimmige Weiterentwicklung der Ideen der Serie - als Spiel selbst stagniert Infinite aber  dadurch, dass die Erzählung so sehr gegenüber den Entscheidungen der Spieler die Oberhand behält, unbestritten auf hohem Niveau.

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Wer - wie ich - anlässlich jüngerer Hochglanzreleases schon seine Zweifel hatte, ob "Triple-A", also das mit Millionenkosten produzierte Topsegment der Gamesindustrie, vor lauter Zielgruppenoptimierung noch das Zeug zur Innovation hat, darf mit Bioshock: Infinite aufatmen: Wenn schon, wie hier, Millionen in die Spielproduktion investiert werden, dann kann man das nicht nur sehen - und zwar nicht unbedingt an der grafisch adäquaten, aber keineswegs Bäume ausreißenden Unreal Engine 3, sondern an Art Design und grandioser Architekturvision -, sondern in mitreißendem Storytelling und narrativem Anspruch tatsächlich erleben. (Als Spiel selbst, also in seinen interaktiven Mechaniken, ist Infinite solide - aber nicht mehr.) 

Und trotz allem, und das soll jetzt nicht als zwanghaftes Herummäkeln an einem immerhin auch von mir hymnisch besprochenen Ausnahmespiel gewertet werden, geht Infinite einen weiteren Schritt hinter die kühne Idee des im ersten Teil der Reihe auch nicht gehaltenen Versprechens zurück. Dass der Spieler als handelnde Kraft irgendeine Entscheidungsfreiheit hätte, wird nicht einmal mehr, wie in Teil 1,  als Pointe verneint, sondern stillschweigend im Quantenstrudel einer zweifellos beeindruckenden, aber letztlich auch vor just dieser Herausforderung eines eigentlich interaktiven Mediums resignierenden Schlusssequenz achselzuckend hingenommen. Es ist eine gute Show, ohne Zweifel; aber eine, in der wir zusehen und nicht selbst mitspielen.

Vielleicht wäre in irgendeinem der unendlichen Quantenuniversen, in die uns Elizabeth einen Blick werfen lässt, unsere eigene Entscheidung als Spieler gefragt gewesen. In diesem ist sie es jedenfalls nicht.

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