Die Grenzen meines Mediums: The Walking Dead
Der folgende Text ist ein Gastbeitrag von Jagoda, die als @scheinprobleme auf Twitter und auf ihrem Blog (nicht nur) zu Games schreibt. Vielen Dank für diesen - auf VGT längst fälligen - Ausflug zu Telltales bemerkenswertem The Walking Dead.
Ich hebe meine Hand und beginne zu hacken. Klick. Das Beil senkt sich und die Schneide bohrt sich in das Bein des Verfangenen. Klick. Erneut hole ich aus und höre, wie sich das Metall durchfräst. Klick. Das Beil trifft auf einen Widerstand, den Knochen, und ich benötige noch mehr Kraft, um auch diesen zu zertrennen. Mein Arm hebt sich. Klick. Blut und mein erschlaffter Arm zeugen von der Vollendung meiner Tat.
Jeder Klick ein Fortschritt. Jeder Klick bohrt sich immer tiefer in meinen Kopf. Mein Schädel wummert, brummt. Herzrasen. Nur langsam beginne ich zu realisieren, was ich gerade getan habe. Ich habe einem Menschen das Bein abgetrennt, um ihn aus einer Falle zu retten. Hätte ich es nicht getan, hätten ihm die Walker, die Zombies, wie sie in The Walking Dead genannt werden, vielleicht einen sehr grausamen Tod beschert. Nein, nicht vielleicht. Definitiv. Es war für mich unausweichlich, aber ich empfinde keine Genugtuung. Keine Befriedigung und keine heldenhaften Allüren. Widerwärtig, unmenschlich war meine Handlung und doch unausweichlich. Doch wer ist eigentlich dieses "Ich", das diese Tat vollbrachte? Warum fühle ich mich nun schlecht und möchte das Spiel beinahe beenden? War das wirklich Ich, die ich dort saß und klickte? Ich, die Figur auf dem Bildschirm in Gestalt von Lee, dem verurteilten Mörder? Lässt sich beides trennen? Die Kluft zwischen digitalem Ich und analogem Ich war noch nie so klein.
Diese Kluft gibt es nur in unserem Sprachgebrauch, denn eigentlich hat sie noch nie existiert. Natürlich bin Ich es, die ich bestimmte Handlungen in Computerspielen ausführe. Sei es, dass Ich über eine Röhre hüpfe, Ich mich als Polygon im Raum bewege oder Ich einer zum Tode verurteilten den Gnadenschuss erteile. Nicht mein Nachbar hat geklickt, nicht der Entwickler hat geklickt. Ich war es. Ganz real. Diese körperliche Erfahrung des Klickens spiegelt sich medial vermittelt durch das Computerspiel auf meinem Bildschirm wider. Real ist alles an der Handlung, virtuell nichts.1 Mein Ich endet nicht an der Tastatur. Computerperipherie erlaubt es mir durch das Spielemedium Handlungen auszuführen: Steuern, lenken, schießen, hacken, Polygon oder Pixel. Ob Ich nun in meiner Küche eine Hühnersuppe koche oder ein Raumschiff auf dem Bildschirm lenke: Ich bin immer Ich.2
Warum ist es überhaupt wichtig die Begriffe Realität und Virtualität fein säuberlich voneinander zu trennen? Warum ist es wichtig, dass der umgangssprachliche beschworene Unterschied von Realität und Virtualität eigentlich keiner ist? Um es mit dem plakativen Ausspruch Wittgensteins zu sagen: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“. Was ich nicht sagen kann, kann ich nicht denken. Wenn ich es nicht gewohnt bin, auf eine bestimmte Art und Weise zu reden, so fällt es mir auch schwer, in diesen Bahnen zu denken. Mit der den Computerspielen vermeintlich innewohnenden Virtualität empfinden wir das Medium Computerspiel lediglich als eine Art imaginäres Objekt in Raum und Zeit. Unsere Handlungen, Meinungen und Empfindungen in Spielen und durch Spiele seien gar nicht 'echt', nicht 'real', sondern gar Ausdruck pubertärer Spätfolgen. Die unsaubere Trennung der Begriffe und ihre Missdeutungen versperrt uns aber die Sicht auf die Tragweite unserer Handlungen, die wir in Spielen vornehmen. Dass unsere Sprache der technischen Entwicklung der letzten 50 Jahre hinterherhinkt, ist sicher kein Geheimnis. Begrifflichkeiten, um dieses digitale Er- und Durchleben exakt und dennoch umgangssprachlich benennen zu können, müssen sich erst noch etablieren.
Eine Welt in der die Zombieapokalypse ausgebrochen ist, mag zwar an sich ein sehr unrealistisches Szenario bieten, die damit verbundenen Probleme allerdings sind weder fiktiv noch veraltet oder hochstilisiert. Kurzer Blick in die Vergangenheit oder in Entwicklungsländer müsste genügen. Es stellen sich ganz banale Fragen der Nahrungsbeschaffung, Sicherung des eigenen Lebens und des Lebens meiner Familie und Freunde, Fragen der medizinischen Versorgung, Möglichkeiten der Überwinterung und der Gruppenbildung. Das ist der Schwerpunkt des Spiels, in dem Lee in The Walking Dead agiert. Die Gesellschaft wurde auf den Nullpunkt gesetzt. Ein Urzustand, in dem die größte Bedrohung vielleicht nicht die Zombies sind oder der Hunger, sondern die Mitmenschen. Bereits zu Beginn begegnet Lee dem kleinen Mädchen Clementine und nimmt sie in seine Obhut. Das Ziel dieses Spiels ist das Überleben Lees. Sehr schnell verändern sich aber unsere Prioritäten und fortan setzen wir alles daran, das Überleben Clementines zu sichern. Ein direkter Angriff auf unseren Beschützerinstinkt.
Möchte man verstehen, weshalb ein Spiel wie The Walking Dead die Kraft hat, uns in einen solchen emotionalen Tief- und Höhenflug zu versetzen, muss die vermeintliche Distanz zwischen Ich und Spielfigur in den Keller der urbanen Mythen verbannt werden. The Walking Dead ist es gelungen, diese gefühlte Distanz auf ein Minimum zu reduzieren. Natürlich ist jede meiner Aktionen in Spielen genauso real wie das Kochen einer Hühnersuppe. Nur die Repräsentation - digital oder analog - ist eine andere. Dennoch fühlt sich nicht jede spielerische Interaktion so nah an, längst ist nicht jedes Spiel so immersiv, dass wir sie auf eine Ebene mit der Zubereitung einer wirklich guten Hühnersuppe stellen würden. Wie hat The Walking Dead mich nun wirklich fühlen lassen, ich sei Lee, mitten in einer wissenschaftlich fragwürdigen Zombiekalypse und die neue Vaterfigur von Clementine? Wie schaffte es The Walking Dead selbst gestandene Männer und Frauen dazu zu bringen, öffentlich mit der Dauer ihrer Heulerei zu prahlen und von ihrer inneren Zerstörtheit zu berichten?
The Walking Dead bricht die Grenzen des Mediums Spiel nicht auf. Ein Spiel ist ein Spiel bleibt ein Spiel. Es zeigt aber, wozu ein Spiel fähig ist, wenn man bereit ist, sich darauf einzulassen. In diesem Fall geschieht das in der geschickten Kombination von Spielmechanik, Story und ethischem Dilemma. Die Spielmechanik zwingt die Spielerinnen und Spieler immer wieder zu vermeintlich selbstverständlichen Handlungen und beschwört dadurch so etwas wie das Gefühl eines Alltags herauf. Der Grad der Authentizität steigt mit jedem Klick, den ich in der eingangs beschriebenen Szene des Beinabhackens vollführen muss. Ich gebe im Gegensatz zu vielen anderen Spielen nicht einen einzigen Befehl und die Spielfigur erledigt den Rest und ich bleibe als passiver Betrachter vor dem Bildschirm zurück. "Hacke Holz. [50 Holz wurden ihrem Inventar hinzugefügt.]" Das wäre zu einfach. Das Repetitive an vielen Handlungen in The Walking Dead ist ein Schlüssel zur Einfühlung. Die Drecksarbeit muss ich eigenhändig erledigen. Sei es, dass ich das Beerdigen eines verhungerten Jungen mit fünf Interaktionen hintereinander bestätigen muss oder immer und immer wieder klicke, bis das verfluchte Bein endlich ab ist. Mit jeder neuen Interaktion steigen auch die Zweifel: "War das jetzt wirklich die richtige Entscheidung? Ist das, was ich hier mache, wirklich gnädiger als das, was die Zombies mit ihm getan hätten?"
Das Repetitive an vielen Handlungen in The Walking Dead ist ein Schlüssel zur Einfühlung.
Diese Fragen münden sehr schnell in einem ethischen Dilemma. Ein ethisches Dilemma ist eine moralische Zwickmühle, die eine Person vor eine Aufgabe stellt, für die es nicht die eine richtige, wahre und gute Lösung gibt. Es sind Probleme, mit denen wir uns im Alltag wenig beschäftigen und die doch unser Leben unterschwellig stark beeinflussen. Unsere Auffassung von Politik, Recht, Gesellschaft, Kindererziehung etc. basiert auf einem uns innewohnendem Moralverständnis. Fragen wie "Sollten wir Armen, Kranken, Schwachen und Kindern helfen, wenn sie es nicht selbst können? Sollen wir das tun, selbst wenn wir alle drunter leiden? Selbst wenn ich oder meine Familie darunter leidet?" Das sind alles Fragen nach unserer Solidarität, unserem Mitgefühl und unserer Opferbereitschaft. Möglicherweise werden, wollen und können wir die Prinzipien unserer Moral nie explizit benennen. Wenn wir versuchen, unsere Moralauffassung auf eine rationale Grundlage zu stellen geraten wir schnell in Erklärungsnot. Die besten Philosophen scheitern seit Jahrtausenden daran. Bestenfalls haben wir ein 'Gefühl' davon, was richtig oder falsch ist. Wir haben eine 'Ahnung' oder eine 'Intuition'. Wir glauben zu fühlen, wann ein Diebstahl gerechtfertigt ist und wann nicht. Reicher Schnösel umgeht den Fiskus? Falsch! Arme Frau liegt im Sterben und benötigt teure Medikamente die gestohlen werden müssen? Richtig! Genau jene Intuition sichtbar - und natürlich dadurch auch angreifbar - zu machen, ist sicher die größte Leistung eines Spieles wie The Walking Dead.
Hierfür ist ebenfalls ein spielmechanisches Element entscheidend. Die Einführung eines Timers bei fast allen wichtigen Dialogoptionen ist vielleicht Telltales größter Hebel in dieser Richtung. Ich habe die Wahl zwischen vielleicht drei bis vier mittelprächtig erscheinenden Alternativen und die Uhr tickt. Stress. Angst. Ich werde genötigt, aus meinem Bauchgefühl heraus zu handeln. Nur selten habe ich die Zeit, rationale Überlegungen mit einfließen zu lassen. Selten bleibt die Gelegenheit, das Nützlichkeitsprinzip meinen Entscheidungen voran zu stellen. Das sind typischen Erwägungen von Spielerinnen und Spielern, die uns oft in Rollenspielen begleiten: "Wenn ich der armen alten Frau helfe, springt für mich bestimmt was Tolles und Wertvolles heraus." Aber hier: Keine Zeit. Kein Abwägen. Nur Bauchgefühl. Was dabei zu Tage tritt, hat die Kraft, uns selbst zu erschüttern. Bin ich so wirklich? Wäre ich so?
Diese Spielmechanik kombiniert mit Entscheidungen, die oftmals das gewaltsame Ende eines uns lieb gewonnen Begleiters beinhalten, transportiert eine derart erdrückende, ausweglose und authentische Stimmung, dass das Spielen einem emotionalen Kamikaze gleicht. Mit Freude stürzen wir uns in den emotionalen Abgrund, suhlen uns darin und wenn möglich, graben wir uns noch ein wenig tiefer in den Dreck hinein. Abgesehen natürlich von dem perfiden Szenario, das uns in einer entmenschlichten Welt so etwas wie Menschlichkeit aufzwingt, indem wir versuchen nicht uns, sondern unseren Schützling Clementine zu retten. Unser unausweichliches Schicksal in Form der verwesenden Zombies stets vor Augen.
Natürlich kann das Erleben der schwindenden Distanz von Spielfigur und Ich scheitern. Das Medium Spiel ist und bleibt eben ein Medium, das mir Inhalte, Gefühle und Anreize vermitteln kann, aber nicht muss. So wie jedes Buch kann mich auch jedes Spiel in seinen Bann reißen oder daran scheitern, mir die ihm innewohnende Tiefe zu vermitteln. Ein Medium bietet mir viele Möglichkeiten, die ich nutzen oder erleben kann. Abhängig von meinem Vorerfahrungen, meiner Lebenssituation oder einfach meiner momentanen Stimmung kann mich ein Spiel, ein Buch oder ein Film ergreifen oder langweilen. In keinem anderem Medium als dem Computerspiel kann es allerdings so einfach und emotional so erschütternd sein, die Barriere zwischen mir und der fiktiven Spielfigur zu durchbrechen. In meiner Welt wurde diese Barriere durchbrochen.
Mit The Walking Dead lernte ich Dinge über mich, die ich eigentlich nie wissen wollte.