Final Fantasy XV: Weltkultur als Popcollage

Ein Gastbeitrag von Christopher Lukman.

Final Fantasy ist wohl eines der interessantesten Fantasy-Formate der Gegenwart. Während andere Medien sich noch an die klassischen Elfen, Orks und Drachen klammern, bindet die größte japanische Rollenspielmarke nach feinstem postmodernen Eklektizismus irgendwie alles, was nur Style und Farbe hat, in ihre spektakuläre Welt voller Anspielungen und Referenzen ein. Der 15. Teil treibt dieses Spiel mit den Zeichen auf die Spitze der nunmehr fast 30-jährigen Reihe. Fantasy wird hier zur Plattform einer heterogenen Motivschmelze, deren Narration sich aus den verschiedensten Archiven der Kulturen bedient. Neben der latenten homosexuellen Färbung der vier Hauptcharaktere presst das Spiel in seinen unzähligen Bruchstücken hinduistische Gottheiten, dämonische Roboter, knapp bekleidete Automobilmechanikerinnen und eine venezianische Hafenstadt auf eine schlanke Blu-Ray für die aktuellsten Konsolen.

Nimmt man dann den Stress der zehnjährigen Produktionsphase und die Zwänge der Spieleindustrie hinzu, erklärt dies, warum das Spiel nach eigenen Angaben des Entwicklers als unfertiges Produkt auf den Markt kam. So hatte man am 29. November des vergangenen Jahres ein Spiel in den Händen, dem man auch deswegen nicht recht trauen wollte, weil es aus dem Land kommt, dessen popkulturelle Erzeugnisse Mal für Mal den gesunden Menschenverstand strapazieren. Das Resultat aber ist mehr als der massenkonforme Brei der Kulturindustrie. Nach einer Reise in die entlegensten Winkel der Spielwelt Eos berichte ich nun ohne Rücksicht auf Spoiler von dem Erlebnis dieses Zusammenstoßes kultureller Versatzstücke.

Das Gerüst der Handlung bildet die wohl älteste Erzählung der Menschheit: Der exilierte Prinz Noctis Lucis Caelum muss das dämonische Imperium Nifflheim stürzen, indem er die Prinzessin und Wunderheilerin Lunafreya Nox Fleuret heiratet, um sein gefallenes Königreich Lucis zu rehabilitieren, somit sein Schicksal als auserwählter Retter Eos' zu erfüllen und die Welt mithilfe der Macht des Kristalls und des gottgegebenen Rings der Lucii von der Dunkelheit zu befreien. Die messianische Heilsgeschichte trifft auf die allseits bekannten Märchentopoi, ohne die auch kein Final Fantasy auskommt. Doch wählt der 15. Teil zur Auffrischung dieser sehr verbrauchten Formeln mit vollstem Erfolg den Weg der Ironisierung und Modernisierung.

Final Fantasy XV überwindet seine verbrauchten Formeln durch konsequente Ironisierung und Modernisierung.

Denn die stockernste Haupthandlung hält das Spiel nicht ab, im Großteil des Gameplays die unbefangeren Töne von vier Großstadtjungs anzustimmen, die das erste Mal die Welt außerhalb ihrer Königsstadt erkunden. Die erste Spielhandlung ist das Schieben der liegengebliebenen Luxuskarre zur nächsten, weit entfernten Tankstelle. Ein phänomenaler Anfang, wenn man erwartet hat, action- und spannungsreich Monster und Bösewichte erledigen zu dürfen. Stattdessen folgt eine Wortspielstaffette der humorvollen Mitstreiter („I've already pushed myself to the brink of death!“), in der auch Kumpel Gladiolus scherzend zur Einsicht gibt: „Not exactly a fairy tale beginnung, huh, Prince Noctis?“ Und plötzlich fällt auf: der Prinz wählt schwarze Cowboystiefel zu seinem Tokyoter Straßenoutfit, die Boxenbabe-Mechanikerin ist mit einem amerikanischen Südstaatenakzent gesprochen und auch die ganze Hintergrundszenerie mutet wie eine texanische Wüste an. Der Macho-Mann Gladiolus hat recht, der Auszug des Helden, der normale Anfang eines jeden Fantasy-Märchens, wird sehr untypisch eingehüllt in den Beginn eines modernen Roadtrips.

Es ist grade diese selbstironische Facette des Spiels, die bei Fans und Kritikern am meisten Anklang gefunden hat. Man bereist die Welt in der Regalia, dem heißgeliebten Königsmobil, übernachtet in Zelten und Camping-Ausstattung der amerikanischen (wirklich existierenden!) Coleman Company, lässt sich zum guten Ende jedes Tages von Kumpel Ignis bekochen, eventuell mit Fischen, die man als Noctis eben selbst gefangen hat und man schaut sich die Fotos an, die Prompto im Laufe des Tages von sich und seiner Crew geschossen hat. So macht es wirklich Spaß, digitale Welten zu bereisen – als Tourist in so gesprächiger und witziger Gesellschaft, dass der Rückfall in das Gefühl des einsamen Gamers vor der heimischen Glotze praktisch unmöglich ist.

Die homosexuellen Untertöne dieser Männertruppe werden nicht nur in Kauf genommen, sondern auch willentlich provoziert, etwa wenn der halbstarke Prompto an einer Stelle wirklich sentimental wird und seinem Wunsch nach Anerkennung gegenüber seinem besten Freund Noctis Ausdruck verleiht, obgleich gerade er es ebenfalls ist, der offen von seinen Schwärmereien für weibliche Figuren erzählt.

Doch für offen ausgelebte Sexualität ist das hier das falsche Universum, in Final Fantasy wurde immer nur ganz zahm und platonisch geliebt. Selbst Noctis kommt nicht über unkörperliche Liebe hinaus. Seine versprochene Prinzessin hat er in seiner Kindheit das einzige Mal getroffen. Seitdem wechseln sie kurze Botschaften in ihrem Poesie-Album, das von einem Zeitreisehund zwischen den beiden transportiert wird - denn eine königliche und märchenhafte Liebschaft kann schließlich nicht wie der ganze Rest der Welt ganz einfach ihr Mobiltelefon verwenden.

Für offen ausgelebte Sexualität ist das hier das falsche Universum - homosexuelle Untertöne sind dennoch überall

Dass Noctis anstatt mit seiner Verlobten fast die gesamte Spielzeit mit seinen Freunden verbringt, hat er sich zwar nicht selbst ausgesucht, doch bildet es den stärksten Punkt des Spiels. Die Beziehung der einzelnen Mitglieder dieser wandelnden Boyband untereinander in Szene zu sehen, wie sie sich gegenseitig auslachen und anfeuern, ermuntern und alles füreinander geben, führt zu Freude im Minutentakt. Da vergisst man fast den eigentlichen Plot, wenn sich nicht Schritt für Schritt der eigentliche Antagonist des Spiels herauskristallisieren würde. Ardyn Izunia ist ein würdiger Vertreter der Dunkelheit im Kampf gegen das Licht. Er ist ein wahrhaft luziferischer Charakter, der einst als ehemaliger Auserwählter der Götter stets das Gute wollte, aber zwangsmäßig nur noch das Böse schafft, weil grade diejenigen dämonischen Kräfte ihn verschlangen, die er zu heilen versucht hatte. Sein Terror kennt keine Bescheidenheit und so hüllt er letztendlich ganz Eos in eine ewig währende, schreckliche Nacht. Die Apokalypse also kommt in Gestalt dieser mythischen, vormodernen Angst zum Ausdruck. Die vorläufige Rettung der Menschen sind hingegen die ganz modernen Lichter der Großstadt, induziert von einem elektrischen Kraftwerk, um das sich die Menschen nun scharen müssen. Ardyns Plan, die Welt in den Ruin zu stoßen, aber ist gleichzeitig sein Plan zu seiner eigenen Erlösung, denn mehr als Zynismus bleibt dem ewig sündvollen Wandrer der Welt nicht mehr.

Um sich dieser Aufgabe zu stellen, benötigt Noctis Hilfe von oberster Stelle, von den sechs astralen Gottheiten Eos'. Shiva, Ifrit, Ramuh, Leviathan, Titan und Bahamuth sind eigentlich Gestalten aus Koran- und Bibelstellen, griechischer Mythologie und auch hinduistischer Schöpfungslehre. Doch wie immer bei Final Fantasy werden diese Gottheiten größtenteils ihres Kontextes beraubt. Shiva wird im Spiel als die feengestaltige und barmherzige Elementarkraft des Eises dargestellt, die mit dem menschenfeindlichen Feuergeist Ifrit im Zwist steht. Obwohl der Letztere in realiter aus dem arabischen Kulturraum stammt, liefern sich die beiden in traditionell südasiatischer Tracht den Showdown um die Menschheit.

Für den Kulturwissenschaftler sind dies absurde Irritationen, mit denen er sich erstmal herumschlagen muss, für den markentreuen Spieler hingegen heißersehnte alte Bekannte. In FF7 droht ein Meteor aus dem All den Planeten zu zerstören, in FF15 ist es Titans Aufgabe einen astralen Meteoritensplitter auf seinem Rücken zu tragen. In FF9 kommt Bahamuth einer Massenvernichtungswaffe gleich, die Städte in Schutt und Asche legt, in FF15 ist er der erhabene stählerne Drache, der im Kristall residiert, um auf den Auserwählten zu erwarten und ihm die Gefüge des Weltenschicksals zu erklären.

Computerspiele tun sich oft schwer damit, ihre Handlungen zu einem würdigen Abschluss zu bringen. Nicht so Final Fantasy 15, hier wird aus allen nur verfügbaren Rohren geschossen. Kitschig, dabei aber auch so wunderbar symbolträchtig ist Noctis' Abschied von seiner Gruppe, den er an ihrem letzten Lagerfeuer kurz vor dem Anbruch der Dämmerung formuliert. Der Name der Welt Eos ist der griechischen Göttin der Morgenröte entliehen, die jeden Morgen aus dem Okeanos, dem Quell alles Lebendigen, emporsteigt, um das Erdenrund zu umspannen. In dieser ontologischen Zwischenwelt, nahe des Lebensanfangs, die in Ardyns ewige Dunkelheit montiert wird, verabschiedet er sich von ihnen, in der japanischen Version dann doch mit den Worten „I love you guys“, denn er muss sein Leben lassen, um die Welt von Dunkelheit reinzuwaschen. Im Abspann des Spiels wird dann wieder an den Anfangsdialog angeschlossen, so als würde sich das Spiel nach dieser Serie von höchsten Gefühlswallungen selbst neu starten, doch Credits und Opening-Musik laufen und sind nicht aufzuhalten.

Der Titelsong, das Stand by me-Cover von Florence and the Machine, ist ein großartiges Arrangement nicht nur des Soul-Klassikers, sondern auch der Hymne des Kristalls, die fester Bestandteil jedes Final Fantasys ist. Unerhört ist nicht nur, dass sich erstmals westliche Musiker dieser Aufgabe annehmen durften, oder dass das Lied der apokalyptischen Nacht ebenfalls durch biblische Verse entgegentritt, sondern dass zu dem emphatischen „Darling, Darling“, grade nicht die märchenhafte Prinzessin Lunafreya, sondern Promptos Fotos der Truppe eingeblendet werden.

Doch diese Ähnlichkeit von Anfang und Schluss der Spielerzählung ist wohl der größte und letzte Streich von Ironie in diesem Spiel. Denn neben diesem Wink an das homosexuelle Publikum, das bis zum heutigen Tage keinen respektvollen Umgang in populären Spielepublikationen gefunden hat, rückt dieser Hinweis auf die Konstruiertheit der Erzählung die Spielwelt in die ihr gebührende eskapistische Ferne. Die Stricke der Wirklichkeitsreferenzen werden ein für alle Mal gekappt. Final Fantasy XV lebt - wie die gesamte Reihe - eben in seiner ganz eigenen, multikulturellen und großen Welt.

Christopher Lukman (Kuya) mag es digital, japanisch und mit so viel Pop wie möglich. In Münster studiert er daher den Masterstudiengang Kulturpoetik der Literatur und Medien und bloggt nebenbei mit gediegener Nüchternheit auf www.filmexe.com. Kontakt: lukmanch@hotmail.de

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