Fünf Jahre VGT! Und ein GOTY-Reigen
Joe: Stardew Valley
Nur wenige Spiele lassen uns eine Beziehung zu unserer virtuellen Umgebung aufbauen, die über die flüchtige Bekanntschaft hinausgeht. Der Reiz des ewig Neuen ist Gebot: Mal entwerfen Algorithmen prozedurale Wegwerfwelten, mal zieht uns das Fernweh hinter den Horizont von Sandkisten, deren Ausmaß ein Verweilen sinnlos macht, mal flanieren wir auch einfach nur mit der Waffe im Anschlag durch hochauflösende Einbahnstraßen.
Das Glück liegt aber nicht allein in der Ferne, sondern auch in der Heimkehr, dem Gefühl von Vertrautheit und Ruhe, das sich nach abgeschlossenen Abenteuern einstellt, wenn wir auf die Couch fallen und alte Bekannte sich in genussvollem Schweigen gegenüber sitzen. Gemütlichkeit findet sich selten auf der Emotionspalette des aufgeregten Mediums Spiel, aber mitunter zeigen Perlen wie Stardew Valley, dass auch ein langsameres statt einem rasanteren Leben reizvoll sein kann.
Dass der Ausstieg aus dem Bürojob und die Selbstfindung auf dem Bauernhof hier von Erfolg anstelle von Agrarsubventionen gekrönt sind, mag schon reichlich kitschig wirken, liefert aber die passende Prämisse um den altmodischen Schauplatz zugleich neumodisch weltoffen zu gestalten. Im Sinne der Erfahrung ist Zynismus ohnehin besser in der Großstadt zurückzulassen: Lästere nicht über dörfliche Kleingeister, pflanze lieber Rüben und werde selig!
Es sind die banalen Rituale des Alltags, die hier im Zentrum des Erlebnisses stehen, die meditative Eintönigkeit des Ackerns, Jätens und Gießens, die meinen Geist für meine Umgebung öffnet, deren Eigenheiten ich durch die Wiederholung des Immergleichen kennen und schätzen lerne. Wann der Schmied morgens öffnet und wie lange ich dorthin brauche. Dass der Greißler mittwochs Ruhetag hat. Welche Wildpflanzen ich zu welcher Jahreszeit sammeln kann. Welche Fische sich nur bei Regen zeigen.
Stardew Valley bringt mich in den Genuss, Zeit für Unnötiges und Aufmerksamkeit für Unwichtiges zu haben. Es stellt keinerlei Ansprüche an mich, seine Welt muss nicht gerettet oder erobert werden. Frei von dem Druck der Auserwählten und Schicksalshaften füge ich mich schlicht in meine Umgebung, setze mir eigene Ziele und gehe nach dem Tagwerk zufrieden zu Bett, verteile Geburtstagsgeschenke, tausche Rezepte, und passe meine Pläne an den Wandel der Jahreszeiten an.
Es ist ein einfaches Leben. Es ist ein erfüllendes Leben.
Eugen: Adr1ft/Event[0]
"Wir träumen von Reisen in das Weltall: Ist denn das Weltall nicht in uns?“ Spiele, die uns auf einsame Geisterschiffe und Forschungsstationen im All schicken, haben oft eine gewisse Tendenz zum Philosophischen, ja zur Introspektion. Zugestanden, das mag nicht für alle diese Spiele gelten: in Infinite Warfare geht es mutmaßlich vor allem darum sich im Multiplayer-Modus von Teenagern vom anderen Ende des Globus demütigen zu lassen, jetzt endlich auch ohne Schwerkraft. Auf Adr1ft und Event [0] jedoch trifft es sicherlich zu. Beide Spiele vereint eben nicht nur, dass sie eine binäre Zahl im Titel haben (bei Event[0] mit Grund – bei Adr1ft ohne), sondern auch ein gewisser Hang zum Psychologischen. Ach ja und beide spielen im Weltall, sonst machte ja die von Novalis geborgte Frage am Anfang keinen Sinn.
Sowohl Adr1ft als auch Event[0] inszenieren die Weiten des Weltalls nicht als Bühne großartiger Schaukämpfe, sondern als eine unendliche Leere, als Abwesenheit von allem Leben, vor der wir uns mit Tonnen aus Stahl und hochentwickelter Technologie schützen müssen, wenn wir sie bereisen wollen. Beiden Spielen gelingt es dabei ausgesprochen gut, die Zerbrechlichkeit und Einsamkeit des Menschen in solcher einer Umgebung zu inszenieren, denn in beiden Spielen ist der schlimmste anzunehmende Unfall eingetreten und wir sind angesichts einer den Dienst versagenden Technik auf uns allein gestellt. In Adr1ft sind wir die letzte Überlebende einer gigantischen internationalen Raumstation (also Gravity nur viel größer und bunter), und hanteln uns durch deren schwerelosen Überreste auf der Suche nach einer Fluchtkapsel. Der Weg ist vorgegeben, aber vor allem außerhalb der Station – im Äther – verlieren wir schnell die Orientierung. Da ist einfach eine Dimension zu viel für unseren Orientierungssinn, und es ist dem Spiel hoch anzurechnen, dass es uns nicht sofort muttergleich mit Automapping und blinkenden Leuchtpfeilen auf den richtigen Weg zurückschickt, sondern einfach mal für ein paar Augenblicke in unserem Schicksal alleine lässt. Denn darum geht es meiner Ansicht nach: Adr1ft ist ein Einsamkeitssimulator, ein wunderschöner Einsamkeitssimulator. Der ergreifendste Moment war für mich auch dann gekommen, als ich mich hektisch mit viel zu wenig Sauerstoff mittels Trägheitsmoment von einem Wrackteil zum nächsten abstieß und dann kurz all das vergaß, weil rechts neben mir – quasi über meiner digitalen Schulter – plötzlich die Erde in all ihrer Pracht auftauchte. Auf jedem Meter unserer Reise lässt uns Adr1ft dabei spüren, was es heißt wirklich alleine zu sein. Den übrigen Besatzungsmitgliedern begegnen wir nur in Form ihrer Audiologs und toter schwereloser Körper.
Ähnlich geht es uns in Event[0]: In einer Parallelrealität landen wir hier nach einem Unfall auf einem in den Weiten des Alls gestrandeten menschenleeren Kreuzfahrtschiff aus den 1980er-Jahren: Verlassene Zimmer, flackernde Beleuchtung, umgestürzte Möbel, verunsicherte Saugroboter... Im Hintergrund immer wieder Klaviermusik. Auch hier ist der künstliche Garten zentraler Ort, auch hier erfahren wir die Geschichte der Besatzung erst im Nachhinein mit einem kleinen, aber gewichtigen Unterschied: In Event[0] ist nicht die Reise durch die Trümmer einer Raumstation zentraler Spielmechanismus, sondern unserer wiederkehrender Dialog mit der künstlichen Intelligenz des Schiffes: Kaizen.
Mit ihr/ihm kommunizieren wir stilecht mittels Tastatur und monochromer Monitore. Für die Älteren unter uns werden hier Erinnerungen an Interplays Textadventures wach. Und ähnlich wie bei diesen steht und fällt das Spiel mit der Glaubwürdigkeit seines Wortschatzes. Und Kaizen ist – gemessen am begrenzten Budget – sehr glaubwürdig ausgefallen. Doch selbst wenn Kaizen überzeugendere Dialoge anzubieten hat, als so ziemlich alle NPCs der jüngsten Triple-A-Spiele, täuscht auch er nicht darüber hinweg, dass wir in Event[0] (wieder) alleine sind. Einsamkeitssimulatoren, ich stelle den Begriff jetzt einfach so in den Raum. Beide Spiele simulieren die Isolation des Individuums auf ästhetisch überzeugende Art und Weise: beklemmend und verführerisch zugleich.
Novalis hat seine Frage 1798 übrigens folgendermaßen beantwortet: „Die Tiefen unseres Geistes kennen wir nicht. Nach Innen geht der geheimnisvolle Weg. In uns und nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und die Zukunft.“ Das kann man auch einfacher sagen: Es geht in beiden Spielen nicht so sehr um das All, Weltraumreisen und fortschrittliche Technologien sondern um den Menschen, seine Ängste und Schwächen.
Christof: Steep
2016 war für mich ein gemütliches, aber gediegenes Jahr in Sachen Spielen – nichts, das mit Intensität der besten Spiele von 2015 eingeschlagen hat. Aber viele gute Erfahrungen mit guten, ausgewählten Spielen. Müsste ich eines hervorheben, würde die Wahl – was mich selbst erstaunt – auf Steep fallen, Ubisofts eher verhalten aufgenommenes Wintersportrundumpaket. Warum? Weil Steep als erstes Snowboardgame überhaupt versteht, dass es in diesem Sport nicht immer nur um Action geht, sondern mindestens ebenso sehr um die besondere Erfahrung von Ruhe.
Dass viele Leute vom Spiel enttäuscht sind, ist nachvollziehbar. Die kürzeste und treffendste Formel zur Beschreibung von Steep ist, dass es sich zu SSX oder Amped verhält wie die Skate-Serie zur Popcorn-Extravaganza des Tony Hawk-Franchise. Steep wurde offensichtlich von Menschen gemacht, die mehr als nur vertraut sind mit dem Sport und der ihn umgebenden Kultur und frustriert davon, dass alle Spiele bislang zu allererst Computerspiele waren und erst in zweiter Linie eine Annäherung an die eigene Erfahrung im Schnee.
Was nicht heißen soll, dass Steep nicht immer wieder lautstark seinen Charakter als millionenschweres Unterhaltungsinstrument in die Welt hinausschreien würde in einem verzweifelten Versuch, die Aufmerksamkeit des Spielers zu erlangen und nie, nie wieder aus der Hand zu geben. Aber es ist das seltene Spiel, das einem die Möglichkeit gibt, all dies weitestgehend auszublenden.
Steep ist nie besser als in jenen Momenten, in denen man nach einer (durchaus unterhaltsamen) kurzen Challenge über die Ziellinie fährt und, nach einer Explosion von bedeutungslosen Erfahrungspunkten und gebellten Kommentaren, einfach weiterfährt, begleitet von nichts als den (beeindruckend realitätsgetreuen) Geräuschen des Bretts im Schnee, dem fantastischen Gefühl von Geschwindigkeit und keinem Ziel vor Augen als den spontanen Tricks und Manövern, zu denen die Landschaft einen einlädt. Die Bergwelt in Steep ist eine grandiose, überambitionierte Schöpfung, und es wäre nicht erstaunlich, wenn sie das Produkt der ersten und einzigen Chance bleiben sollte, eine digitale Wintersportwelt von dieser Größenordnung und mit diesem Budget zu kreieren.
Robert: Thumper
Der Untergang des Musikspiels zu Beginn des Jahrzehnts gefiel mir gar nicht. Es war zwar nicht so, dass mich das ewige, rhythmische Drücken von Richtungspfeilen oder bunten Tasten bis in alle Ewigkeit begeistert hätte. Doch der Gedanke, dass Dance Dance Revolution, Guitar Hero, Rock Band und Co. nun doch kein eigenes Genre sondern ein länger andauernder Hype gewesen sein sollten, war frustrierend. Ich habe viele unterhaltsame Abende mit Plastikgitarren verbracht, als Elektronikmusikmensch einige Rock- und Metal-Klassiker (besser) kennen und schätzen gelernt und auch den performativen Aspekt ins Herz geschlossen.
So ganz tot war das Musikspiel dann aber doch nicht. Es hat sich zurückgezogen, da und dort Mini-Comebacks auf Smartphones und Tablets gefeiert und dann und wann auch ein paar Schritte zurück bzw. nach vorne (je nach Betrachtungsweise) gemacht: Weg vom Rocker-Bro-Image, hin zum Experiment. Das Reboot von Amplitude Anfang letzten Jahres etwa hat gezeigt, dass Musikspiele um den Jahrtausendwechsel herum noch wesentlich weniger konservativ waren als sie später zugunsten der Erschließung einer breiten Zielgruppe wurden. Das runderneuerte Amplitude war ganz okay, aber weggeblasen hat mich 2016 ein weitaus wuchtigeres Kaliber.
Thumper ist eine onomatopetische Magenmassage, wo stumpf stampfende Bassdrums und hochfrequente Kicks und Klicks in unnachgiebiger Weise auf meinen glänzenden Rennkäfer zurasen. Erst mal ist Widerstand zwecklos, doch schon bald weiß ich mich zu wehren: Die Thumps werden rhythmisch abgefangen, und in die grell erleuchteten Todeskurven lege ich mich mit voller Kraft mutig hinein, um nicht in einem Chaos aus Neon und Chrom an ihnen zu zerschellen. Thumper lässt mich perfekt aufrecht sitzen, erzeugt binnen Sekunden eine ganzheitliche Symbiose aus Geist und Körper und versetzt mich in einen konzentrierten, wachen Kampfzustand. Das Duell zwischen mir und der auf hochglanz polierten Rennlinie des Todes birgt wenig Toleranz für Fehler und nur in kurzen Intermezzi bleibt Zeit zum Luftholen. Die Levels sind keine Spielabschnitte in Songlänge, sondern gnadenlose Marathons, dessen Zugeständnis an die Fehlbarkeit der Mensch-Maschine sich nur darin äußert, dass ich bei einem Game Over nicht ganz von vorne, sondern bloß zu Beginn der letzten Teilstrecke neu starten muss.
Abstraktion und Schonungslosigkeit sind die zwei wichtigsten Zutaten, die die Faszination der alten Arcade-Games (Galaga, Pac-Man, Centipede, usw.) ausmachen. Dadurch wird die Zeitspanne, die es braucht, bis der sehnsüchtig herbeigewünschte Flow-Zustand hervorgerufen wird, miniminert. Die Abstraktion lässt uns nicht versuchen, die virtuelle Umgebung mit der physischen Welt zu vergleichen und die Schonungslosigkeit sorgt für maximale Aufmerksamkeit. Die Köpfe hinter Thumper wissen darüber bestens Bescheid und haben ein Game geschaffen, das mehr als jeder pixelige Space-Dogfight, mehr als jeder hippe Hardcore-Plattformer und mehr als jedes neu aufgelegte Fighting Game den Geist der goldenen Ära der frühen 80er Jahre entfacht. Über weite Strecken hinweg braucht Thumper auch gar nicht mehr als nur eine Spur, was bei anderen Musikspielen eine seltsame Reduktion wäre. Doch die rauschhafte Hochgeschwindigkeitsreise meines glänzenden Käfers braucht keine Überholspur. Nur einen kräftigen Bumms im richtigen Moment.
Rainer: The Last Guardian
2016 ist wohl jenes Jahr, in dem ich mich seit Ewigkeiten wieder mit AAA-Spielen versöhnt habe. Ich habe viele (zu viele) Stunden in XCOM 2 verbracht, in Dark Souls 3, in Dishonored 2 und Titanfall 2; es ist symptomatisch, dass mir allerdings ein Spiel am besten gefallen hat, das keine Fortsetzungszahl im Namen trägt. Wie in meinem Essay wortreich erläutert hat mich Fumito Uedas The Last Guardian auf eine Art und Weise beeindruckt, die ich so nicht vorhergesehen hatte.
Ein Bekenntnis: Ich habe Ico erst 2015 gespielt, und - viel schlimmer - Shadow of the Colossus ebenfalls 2015 begonnen und bis heute nicht beendet. Jahrelang hätte ich ohne mit der Wimper zu zucken bestätigt, dass japanisches Gamedesign, was immer man darunter verstehen mag, nicht unbedingt meins ist. Die Perfektion der Jump'n'Runs von Mario abwärts ist mir bewusst, doch nicht nahe, und sowohl an JRPGs wie auch den Spielen von Kojima und Suda51 haben mich (in wechselndem Ausmaß) stets sowohl die irritierende Over-the-top-Japano-Ästhetik als auch die mir absolut gegen den Strich gehende Cutscene-Manie den Appetit verdorben. Dass mich im hohen Alter sowohl Hidetaka Miyazaki als auch Fumito Ueda dazu bringen, gleich zwei japanische Designer zu meinen Helden zu küren, ist auch deshalb bemerkenswert, weil die Gründe für diese Liebe sehr unterschiedlich sind und Ersterer Letzterem doch so viel verdankt.
Egal: The Last Guardian macht alles das nicht gut (oder gar nicht), was ich an "Souls" so schätze. Es ist schlecht spielbar, ärgert mit Kamera und so manchem WIRKLICH altbackenen Rätsel, in dem die Beschränkungen des Gameplays nicht elegant versteckt, sondern sogar frech als Rätselmaterial hergenommen werden. Erinnert sich jemand an die Szene, in der man zwei Kisten aneinanderschieben muss, weil sonst der immergleiche Wurf des Futterfasses nicht liegen bleibt? So etwas geht gar nicht, eigentlich, und doch ist mir das und noch so viel mehr so herzlich egal, weil The Last Guardian eben mit seiner Hauptfigur, mit Trico, so viel so unfassbar neu und richtig macht, dass es schlicht keinen Konkurrenten um mein GOTY gibt.
Viele andere Spiele waren technisch, spielerisch besser, in den Mechaniken origineller, meinetwegen auch unterhaltsamer; aber keines, jemals, hat das geschafft - oder auch nur ernsthaft versucht - was Fumito Ueda hier gelungen ist: die perfekte Illusion eines beseelten Wesens. Ich bezweifle, dass sich in absehbarer Zeit viele würdige Nachfolger dieser Innovation finden werden; zu teuer, zu aufwendig, zu mühsam ist diese technische Perfektion, die von so vielen Kleinigkeiten getragen ist, die man nur deswegen nicht bemerkt, weil sie natürlich wirken. Es wird lange dauern, bis wir diese Eleganz wieder sehen werden. Und doch gibt es sie, ist sie möglich. The Last Guardian ist der Beweis dafür, dass Spiele immer noch nur an der Oberfläche ihres Potenzials kratzen.