The Games That Never Were: Kane & Lynch: Tess' Men

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Stagnation, Aufgewärmtes, Sequels: Wer sagt, dass es bei Games nicht noch Platz für revolutionär Neues, für Unerwartetes, Abwegiges oder schlicht: das Unmögliche geben darf? The Games That Never Were ist ein Gedankenexperiment: Spiele, wie es sie nie gegeben hat und so auch wohl nicht geben wird. Diese Woche fantasiert sich der geschätzte Kollege Rudolf Inderst, Vollbartträger und Ressortleiter Digitale Spiele bei TITEL Kulturmagazin, im zwanglosen Gespräch ein Spiel herbei, das es so nie gab.  

Hallo. Sie kennen mich nicht. Mein Name ist Tess. Ich weiß, ich weiß. Ich weiß, was Sie jetzt sagen wollen. Klingt wie...eine Stripperin. Oder...Tess, klingt nach Namensschild bei einer der vielen Autovermietungen. Oder vielleicht doch eher nach Servicekraft in einem Diner? Immerhin denken Sie jetzt darüber nach. Tess. Dennoch wiederhole ich mich: Sie kennen mich nicht. Ich bin das, was man eine Streichung nennt. Ich war geplant. Aber dann passte ich irgendwann nicht mehr in das Konzept. Um ehrlich zu sein, hatte ich mit so etwas schon gerechnet. Diese Industrie...sie ist...nun ja, viel zu konservativ, um das wirklich durch zu ziehen. Aber für Selbstmitleid ist nun nicht der richtige Zeitpunkt. Ich sage nicht, dass es Phasen gibt, in denen es nützlich ist, sondern...ach, vergessen wir das. Ich bin nicht im Dienst, und Sie...Sie sind nicht mein Patient. Noch nicht.

(kichert)

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Okay, ich merke, Sie werden langsam ungeduldig. Sie wollen wissen, was das alles soll. Das ist typisch. Die Aufmerksamkeitsspanne, ich verstehe. Ich habe sie fast ausgereizt. Sie haben schließlich...nicht den ganzen Tag Zeit...müssen dies und das noch erledigen, DAMIT Sie danach Zeit haben für...ja, für was eigentlich? Denken Sie mal darüber nach. Stört es sie, wenn ich rauche?

(zündet sich eine Zigarette an)

Kennen Sie den Song „Dänen lügen nicht“? Nun, ich sehe das mittlerweile etwas anders. Ich will damit nicht sagen, dass die Nordmänner lügen, ich will lediglich die Möglichkeit nicht ausschließen, dass...gewisse...

(ahmt einen Wissenschaftler nach)

...modulare semantische Entitäten einen Neuabgleich mit der rezipierten Realität erfahren, wenn nicht sogar einfordern. Ja, und so kam ich hier her. Es grenzt sowieso an ein Wunder, dass Sie mich gefunden haben. Ehrlich gesagt, ich möchte gar nicht wissen, wie Sie das angestellt haben?

(winkt mit dem Zeigefinger)

Waren Sie ein böser Junge? Ich meine, man stößt nicht so einfach auf mich. No, Sir. Ich bin schließlich nichts weiter als eine Figur in einem Designdokument. Ha! Ja, da staunen Sie! Ja, ich kenne mich. Aber das sollte ich auch. Therapeutenkrankheit. Sich selbst über zu analysieren. Aber lassen Sie uns damit nicht anfangen. Das führt in...Abgründe.

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(schweigt)

Nun gut, ich habe Sie lange genug warten lassen. Hinhalten ist sonst so gar nicht mein Ding. Freunde sagen, ich käme direkt auf den Punkt. Ich bin auch wirklich kein Freund von Abschweifungen. Nicht mit mir, sage ich stets. Ich will wissen, was Sache ist. Ehrlich.

(pausiert)

Es ist aber auch eine verrückte Geschichte. Sehen Sie...da gibt es dieses Videospiel. Kane & Lynch. Dead Men. 2007 erschien das. Vielleicht haben Sie das ja gespielt? Ja? Gut, dann wissen Sie ja worum es in der Spielmechanik geht. Im Grunde ist es ein Third-Person-Shooter. Das ist beileibe keine Seltenheit in der heutigen Videospiellandschaft. Aber warum erzähle ich Ihnen das. Sie wissen das bestimmt. Und wahrscheinlich könnten Sie auch mindestens zehn weitere Titel aufzählen, die mit diesem Core-Gameplay arbeiten. Nicht umsonst sind Sie auch hier gelandet. An ZUFÄLLE glaube ich schon lange nicht mehr!

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(kratzt sich am Kinn)

James Seth Lynch. Klingelt es da? Natürlich tut es das. Sie sind Profi. Sie haben sofort erkannt, dass es sich um einen der beiden Namenspatrone des Spieles handelt. Und eben weil Sie so clever sind, wissen Sie auch, wie die Entwickler des Titels diese Figur angelegt haben – nämlich als psychotischen Killer, der mit seinen Aktionen immer wieder für ein Kopfschütteln bei Spieler sorgen soll. Immer wieder scheint er auszuticken

(macht Anführungszeichen in die Luft)

und die Lage noch ein wenig aussichtsloser zu machen. Doch der geschickte Umgang mit der Waffe sorgt dafür, dass keine der vielen Episoden zum Ableben der Figuren führen muss. Gunplay comes first.

(schüttelt den Kopf)

Ursprünglich sollte das alles ganz anders aussehen. Ursprünglich sahen die Entwickler etwas ganz Großartiges vor. Kane & Lynch. Dead Men sollte MICH ins Zentrum der Handlung stellen. Ja, Sie haben richtig gehört. MICH.

(wirft die Arme in die Luft)

Okay, ich sehe schon. Sie glauben mir das jetzt nicht. Sie denken sich, was will die frustrierte Kuh eigentlich? Bläht sich hier auf. Erfindet einen selten blöden Mist. Will sich wichtig machen. Vermutlich glauben Sie mir jetzt auch nicht, dass der Arbeitstitel des Spiels Kane & Lynch: Tess’ Men war. Und das ist ihr gutes Recht. Die Gedanken sind frei! Ist doch so ein altes Volkslied bei Ihnen, oder? Und zurecht! Die Gedanken sind frei, aber stets treiben die Aktionäre die Firmen in eine Richtung. In Richtung Gewinn.

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(verschränkt die Arme vor der Brust)

Ehrlich, ich will nun nicht nach Arbeiterpartei klingen, aber...ach, lassen wir das. Das führt zu nichts. Sie bekommen schon einen schweren Kopf, das sehe ich  doch deutlich. Ich werde Ihnen jetzt einfach erzählen, wie das Spiel ursprünglich aussehen sollte und Sie können entweder zuhören oder einfach weggehen. Aber selbst, wenn Sie sich für Zweiteres entscheiden sollten, werde ich weiterreden. Ja. Richtig gehört. Dann erzähle ich mir selbst die Geschichte, wie schon so oft. Schließlich bin ich das Alleinsein gewöhnt; in meinem Unterordner vierter Ordnung mit der Bezeichnung Games That Never Were hänge ich nun schon fünf Jahre herum. Irgendwann wird diese verdammte Firma schließen, und ich lande zusammen mit den anderen Daten sowieso auf dem Müll oder werde formatiert. Oder, ach, was weiß ich.

(lehnt sich gegen eine unsichtbare Wand)

Sehen Sie, Kane und Lynch sollten ursprünglich nicht zwei Personen sein. Das war eigentlich viel psychologischer angelegt. Kane und Lynch waren ein und dieselbe Figur. Die Auswüchse, die, die beiden an den Tag legten, sollten bei Projektstart alle in EINER Figur zusammenkommen. Es handelte sich um einen Familienvater, der selbst erkannte, dass er ein massives Problem hat. Mister Klynch, wie er ursprünglich hieß, war tagsüber ein Büroangestellter, abends ein liebender Familienvater, aber nachts ein sich mit künstlichen Drogen hochpushender gewalttätiger Kerl – natürlich weiß man sofort, woher hier die Inspiration stammt: Dr. Jekyll und Mr. Hyde.

(starrt in die Luft)

So weit, so altbacken also. Aber nun sollte ich ins Spiel kommen. Ha, ins Spiel kommen. Good one.

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(räuspert sich)

Zurück zum Thema. Eines Abends, und das war alles Teil des Vorspanns, übertreibt es Klynch mit dem Herumpoltern und tötet seine eigene Familie, was nicht weniger als ein gigantisches Trauma heraufbeschwört. Er stellt sich noch in derselben Nacht der Polizei und bekommt im Laufe des Verfahrens mich zur Seite gestellt. Ich bin Psychiaterin. Ich bin es, die für die Gerichtsverhandlung ein Gutachten anfertigen soll. Nach den ersten gemeinsamen Sitzungen ist offenkundig, dass in Klynch dieser finstere Part lauert. Er ist wie ein Typ in einer schlecht beleuchteten Gasse, durch die man auf dem Weg nach Hause hindurch muss. Es gibt keinen Umweg. Und schon gar keinen Ausweg. Man muss sich ihm stellen. Und man muss mit ihm fertig werden. Ohne dabei selbst drauf zu gehen. Ohne sich verändern. Oder...ohne zu werden wie er.

(pausiert)

Gemeinsam beschließen wir, diesem Bösen ein Gesicht zu geben, einen Namen. Denn selbst der Laienpsychologe weiß, was man benennen kann, davor hat man weniger Furcht. Wir nennen diese Entität also Lynch.

(imitiert einen Tusch)

Na, merken Sie was? Das alles klingt schon etwas anders als nach 08/15-Cover-Shooter oder wie Ihr Profis das auch immer nennen mögt. Mittelpunkt der Handlungen waren eben nicht Phew-Phew-Passagen, sondern unsere gemeinsamen Therapiesitzungen, in denen wir versuchten, mit Lynch fertig zu werden. Spieler sollten ihn mit meinen Fragetechniken nicht nur vertreiben, sondern ihn zu etwas umformen, dass Kylnch verarbeiten konnte. Er musste es als dunklen Teil seiner eigenen Persönlichkeit begreifen, um dagegen vorgehen zu können. Wenn es der Spieler nicht schaffte, konnte das für alle Beteiligten übel enden. Die unreiferen unter den Entwicklern wollten natürlich sofort, dass der Patient bei einer falschen Eingabe über den Schreibtisch springt und mir den Brieföffner ins Auge rammt und dabei masturbierend brüllt, während er dann in einer zwanzig minütigen Cut-Scene von Maschinengewehrsalven zerfetzt wird. Ja, so ist sie, die heutige Jugend.

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(fährt sich durch die Frisur)

Vieles, was wir vorhatten, tauchte in etwa in Mass Effect auf, auch bei uns sollten Entscheidungsbäume das Spiel durchziehen und verschiedene Auswirkungen evozieren. Natürlich hätte es auch spielbare Abschnitte geben sollen, aber die waren viel surrealer angelegt. Am ehesten noch so wie in den Traumepisoden bei Max Payne oder Alan Wake. Spätestens jetzt dürfe Ihnen auffallen, dass das alles nicht mehr viel mit dem Spiel zu tun hat, das 2007 schließlich auf den Markt kam. Ich, Tess, hatte plötzlich dienstfrei. Für immer. Stattdessen Blei, Blei und nochmals Blei. Doch nun ist es an der Zeit zu gehen. Ich treffe noch ein paar Freunde im Club, gleich hier um die Ordnerecke – im Savegames that never were. Wenn Sie Lust haben, können Sie...obwohl, nein, ich glaube, das ist nicht so Ihr Ding. Das sind alle noch viel wehmütiger.

(wird transparenter)

Ich danke Ihnen für’s Zuhören. Sie sind ein guter Mensch. Vielleicht haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, selbst Therapeut zu werden? Man kann nie wissen...! Auf bald!

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