The Games That Never Were: Krieg spielen
Stagnation, Aufgewärmtes, Sequels: Wer sagt, dass es bei Games nicht noch Platz für revolutionär Neues, für Unerwartetes, Abwegiges oder schlicht: das Unmögliche geben darf? The Games That Never Were ist ein Gedankenexperiment: Spiele, wie es sie nie gegeben hat und so auch wohl nicht geben wird. Jan Hoppe von 99Leben erträumt sich ein anderes Kriegsspiel.
Spiele mit ganz viel Krieg drin gibt es zu Hauf. Ein Blick ins Games-Regal eines Games-Geschäfts macht dies mehr als deutlich. Da geben die Rufe nach Ehre der modernen Kriegsführung die Klinke in die Hand und zeichnen ein sonderbares Bild von Krisengebieten, in denen gestandene Kerle sich ohne Reue oder Gewissen die Köpfe kaputtschießen. Frauen, so lernt man in den Szenarien, gibt es im Krieg schon aus Prinzip nicht. Zivilisten tauchen ganz selten mal auf, zum Beispiel wenn gerade eine Atombombe neben dem Eifelturm hochgeht, zeitgeschichtlich irrelevante Orte wie gewöhnliche Innenstädte oder irgendwelche Dörfer meiden sie jedoch. Dass moderne Kriegsshooter diesen unsinnigen Eindruck vermitteln, ist nicht nur albern, sondern auch schade, denn mit der Negation des Zivilen verpassen die Entwickler eine Chance, die wirklich wichtigen Geschichten des Krieges zu erzählen.
Wie den Lesern von Video Game Tourism wohl bekannt sein sollte, sind Computerspiele unter anderem deshalb so großartig, weil sie uns die Möglichkeit bieten, eine fremde Perspektive einzunehmen. Das kann man zwar auch von Büchern oder Filmen behaupten, aber allein Videospiele erlauben es uns, eine aktiv handelnde Position einzunehmen. Krieg ist nun ein Thema, welches die meisten Menschen in Westeuropa nur aus Erzählungen kennen, einen bewaffneten Konflikt im eigenen Lande kann ich mir genauso wenig vorstellen wie das Leben im Mittelalter. Wir lesen hin und wieder mal Geschichten, beschäftigen und historisch oder zeitgenössisch mit militärischen Auseinandersetzungen und schalten schlimmstenfalls mal nachts N24 ein, um etwas über Hitlers Ufos zu erfahren. Eine wirkliche Vorstellung davon, wie das Leben in einem Krisengebiet aussieht und was dies für Betroffene bedeutet, haben wir allerdings kaum. Ich finde: Ein Videospiel wäre ein gutes Mittel, um das zumindest im Ansatz zu ändern.
Ich wünsche mir ein Kriegsspiel in dem man zur Abwechslung mal kein Soldat ist. Wenn man sich designtechnisch an Adventures und Sneaking-Games orientiert und einen Fokus auf Environmental-Storytelling setzt, gestaltet sich das fast von selbst. Man muss nur die richtige Perspektive wählen.
Etwa die eines ehemaligen Politikers: Es wäre spannend, im Spiel die Perspektive eines Politikers des alten und verhassten Regimes einzunehmen. Unser Protagonist wäre ein Parteisoldat des Mittelbaus, dessen Gesicht zwar nicht allgemein bekannt ist, der aber dennoch darauf achten muss, wem er gegenüber welche Aussagen tätigt. Es ist vorstellbar, dass er schwer verwundet von einer Rebellengruppe gefunden und medizinisch versorgt wird. Im Folgenden gilt es dann, die Gräuel der alten Regierung aus der verfeindeten Perspektive kennenzulernen und Entscheidungen zu treffen, die sich für oder gegen einen Sinneswandel aussprechen. Wenn der Spieler dann die Seiten wechselt, kann ein Wiedertreffen mit alten Bekannten für Probleme sorgen. Erfolgte der Seitenwechsel nur, um die eigene Haut zu retten oder hat tatsächlich ein Umdenken stattgefunden?
Ein weiteres denkbares Spielziel über das eigene Überleben hinaus wäre die Verschleierung der eigenen Vergangenheit. Dazu müsste man zunächst eine gute Ausrede finden, früh schlafen zu gehen, um sich dann in den ehemaligen Regierungssitz zu schleichen und Dokumente zu vernichten. Erst in diesem Moment würde der Spieler dann feststellen, was der Protagonist tatsächlich zu verantworten hat.
Kind: Man stelle sich vor, dass der Protagonist des Spiels ein Kind ist, welches im Moment eines überraschenden Militärschlags gerade in der Schule ist. Der Alltag löst sich auf und versinkt im Chaos. Mitschüler sind verletzt, der Nahverkehr bricht zusammen und die Gedanken des Kindes kreisen um die Angst um die eigene Familie. In diesem Szenario könnte das Spielziel lauten, die Angehörigen trotz aller Widrigkeiten wiederzufinden. Um die Verwandten zu erreichen gilt es dann, sich vor feindlichen Soldaten zu verstecken, umkämpfte Straßen zu überqueren und Hilfe bei Erwachsenen zu suchen. Denkbar wäre dann ein Dilemma, in welchem man zwar von Freunden der Familie gefunden wird, sich von diesen jedoch lossagen muss, um die Suche nach den eigenen Eltern fortzusetzen. Ins moralische Grau könnte die Handlung dann führen, indem beispielsweise eine humanitäre Hilfsorganisation das Streben des Kindes trotz guter Absichten weiter erschwert.
Mutter: Ein weiteres mögliches Szenario wäre das einer Flüchtlingsfamilie. Der Spieler schlüpft in die Rolle einer Mutter, die gemeinsam mit ihren Kindern eine Reise ins rettende Nachbarland antritt. Auf dem Weg gilt es, Kreuzfeuer und Bombardements zu meiden, sich vor plündernden oder gar folternden Feindsoldaten zu verstecken und den Kindern den Ernst der Lage zu vermitteln ohne die harte Realität vollkommen an sie heranzulassen. Besonders schwierig wird das Ganze, wenn eines der Kinder ein Kleinkind ist, das beispielsweise unverhofft zu schreien beginnt während man sich im Keller vor Milizen versteckt.
Die Wahl einer zivilen Perspektive anstelle der eines Soldaten böte die vielversprechende Möglichkeit, eine wirklich kraftvolle Geschichte zu erzählen.
Nebenher gilt es natürlich konstant Nahrung ausfindig zu machen. Eine weitere Herausforderung wäre die Beschaffung von Wertgegenständen, um Schleuser zu bezahlen. Das sind die Leute, die gegen Bezahlung bei der Flucht helfen und gegenüber deren Willkür Flüchtlinge recht schutzlos ausgeliefert sind. Dass das angesparte Geld beim Fall der alten Regierung eventuell nicht mehr viel wert ist, gilt es dabei ebenso zu beachten wie auch den Schutz der Kinder vor Verschleppungen.
Die Wahl einer dieser drei beispielhaften Perspektiven anstelle der eines Soldaten ist mehr als nur ein Gimmick, sie böte die vielversprechende Möglichkeit, eine wirklich kraftvolle Geschichte zu erzählen. Spec Ops – The Line war mit seinem kritischen Ton ein Anfang. Mit der Rolle einer unbewaffneten Person könnte man eine neue Tiefe erreichen und die Spielerschaft nebenbei etwas mehr für das zivile Leid und die wackelnden Moralvorstellungen in einem Krisengebiet sensibilisieren. Welcher Ton dabei genau angeschlagen wird, läge einerseits in den – den Controller haltenden – Händen des Spielenden und andererseits in der des Gamedesigners.
Richtet der ehemalige Politiker die Waffe gegen alte Verbündete? Wird er letztendlich doch Opfer der Rebellen? Landet er vor dem Kriegsgericht und seine Exekution später als verwackeltes Handyvideo auf YouTube?
Erreicht das Kind seine Familie früh genug? Findet es ein leeres Elternhaus wieder? Sind die Eltern gar tot?
Gelingt es der Mutter mit ihren Kindern das Ausland zu erreichen? Gelingt es, die Familie zu retten? Gewährt die neue Heimat überhaupt Asyl? Oder landet man eventuell an einem Flughafen, den man vom Anfang des Spiels kennt? Und wenn Asyl gewährt wird, ist das neue Leben menschenwürdig?
Ich denke, es sollte klar sein, dass man mit einem Spiel über die Geschichten der Nicht-Militärs keinesfalls die Möglichkeit hat, Westeuropäern wie mir einen Eindruck vom tatsächlichen Erleben in einem Krisengebiet zu vermitteln. Es könnte jedoch dabei helfen, die Sensibilität für diese Themen etwas zu stärken. Nachdem die Asylgesetze in Deutschland Hand-in-Hand mit Pogromen in Rostock und Hoyerswerda sowie Brandanschlägen in Solingen und Mölln drastisch verschärft wurden, redet die Öffentlichkeit nur noch sehr selten von Flüchtlingen. Ein kraftvolles Spiel könnte dies ändern.
Für mich sieht es so aus, als wären die beschriebenen Szenarien ein ausgezeichneter Weg, gutes Game-Design fast intuitiv mit einer wichtigen Aussage zu verbinden. Mit dem Mut zu einer respektvollen Aufarbeitung des Themas und der richtigen Vermarktung könnte ein solch ungewöhnliches Spiel nicht nur ein kultureller, sondern sogar ein kommerzieller Erfolg werden, denn zur Abwechslung wäre auch eine – freilich nicht vorbehaltlos positive – breite Diskussion durch konservativere Medien wie beispielsweise Wochenzeitungen möglich. Das Erreichen eines ganz neuen Publikums wäre damit gewiss. Die größte Herausforderung wäre wohl, dem Thema im Kontext eines Spiels gerecht zu werden. Was meint ihr?