Gone Home: Spiele missverstehen
Spoilerwarnung. Was sonst? Also zuerst Gone Home spielen, erst dann diese - ich sag's gleich - recht selbstreferenziellen Meditationen weiter unten lesen. Ja, das ist ein beinhartes Ausleseverfahren hier im verhipstertsten Intellektuellen-Gaming-Blog der Wahl. Hab ich schon Dwarf Fortress gesagt? Im Ernst: Spoiler.
Der Untertitel zu diesem Text über das grandiose Gone Home - ein, ich gebs zu, auf den ersten Blick irreführend klingendes "Spiele missverstehen" - ist ein Verweis auf eines der Bücher, das von meinem in grauer Vorzeit versuchten Publizistikstudium geblieben ist: James Monacos Buch "Film verstehen" ist ein Klassiker, der Grundlegendes zum Medium Film erläutert; eigentlich, so würde man meinen, sollte jedem Fernseher, jeder Kinokarte ein Exemplar dieses Werkes beiliegen, in dem etwas Essenzielles, aber meist Vernachlässigtes unternommen wird, nämlich die impliziten und aus Tradition erarbeiteten Grundgesetze des Mediums Film darzulegen, bewusst zu machen und so das Medium für seine Konsumenten nicht nur passiv erfahrbar, sondern aktiv analysierbar zu machen.
Meine These - und Grund für einen Untertitel, der eine derart umständliche Einleitungserklärung nötig macht - ist nun die: Wir Spieler, besonders wir Viel- und Gewohnheitsspieler, haben uns einen mechanistischen Zugang zum Medium Games angeeignet, der jenem des Gelegenheits- oder gar Erstspielers unterlegen ist und beinahe blind ist für sein Objekt. Wir "verstehen" unser Medium vielleicht, in dem Sinne, dass wir seine Zeichen zu deuten wissen und mit ihm umgehen können; zugleich engt dieses Verstehen aber unseren Umgang mit dem Medium ein und führt fatalerweise vielleicht sogar zu jener Stagnation, die wir an anderer Stelle bedauern. Gone Home ist so gesehen ein Befreiungsschlag, der demonstrativ zeigt: Wir verstehen da vielleicht was falsch.
Es ist das "Play Brain", das am Ruder ist, wenn ich die Finger auf die WASD-Tasten lege, das effizient filtert, erkennt, sucht, vergleicht und sich zurechtfindet. Ich "verstehe" den First-Person-Shooter, die Geschichte des Genres, seine Mechanismen, Konventionen, Hinweise, Übereinkünfte und Gewohnheiten. Ich weiß Bescheid: Ich bewege mich effizient durch die Spielarchitektur, sortiere Sackgassen aus, selektiere einen optimalen Weg, erkenne Rätselmechanismen genauso wie Vorboten nahender Gefechte: Oh, ein Raum voller Munition? Eine verschlossene Tür mit Code-Eingabe? Ein Zimmer voller Holzkisten? If-then.
Ich "verstehe" die Konventionen, Mechanismen und Traditionen so gut, dass ich oft durch das Spiel auf seine Abstraktion hindurchblicke: Hier eine Arena, dort ein Schlüsselrätsel, da ein Raum mit potenziell versteckten Vorräten. Egal, ob ich dabei in Rapture herumlaufe oder in Pripyat, in Columbia oder Pandora: Das Play Brain abstrahiert, lässt die Deko verschwinden, sieht nur den Mechanismus. Ich behaupte: Wir kürzen zu viel weg.
Gone Home hat mir gezeigt, dass ich mit dieser Art des "Verstehens" einem Missverständnis aufsitze, und es demonstriert somit auf erfrischende Weise, dass man elegant aus den eingefahrenen Spurrinnen aussteigen kann - ein Kunststück, das wiederum und natürlich dem Indie-Kleinwagen leichter möglich ist als, say, einem AAA-Flugzeugträger wie Infinite, das einfach klassisches Schießen bieten muss, um die nervösen Männer mit den Taschenrechnern und Statistiken zu besänftigen.
Vielleicht ist die Konzentration auf das Ästhetische, Atmosphärische in den Spielewelten, wie sie die Arbeit der In-Game-Fotografen feiert, ja eine Ersatzhandlung, ein sehnsüchtiges Innehalten und Verweisen auf das, was in unserem Medium, abseits der Gameplay-Mechanismen hier eigentlich zu sehen ist: eine Stadt unter Wasser; ein Schloss in den Wolken; eine alpine Wildnis; ein Wüstenplanet; eine verlassene Hebrideninsel. Es braucht ironischerweise vielleicht den Blick spielferner Menschen, die etwa angesichts Andy Kellys Other Places-Reihe große Augen bekommen und uns sagen: "Schönes Medium habt ihr da!" "Stimmt", antworten wir dann vielleicht zerstreut, aber geschmeichelt, "aber in Infinite kommen die Plasmide nur halb so fetzig wie in Bioshock 2." Es mag komisch klingen, aber: The more you know, the more you lost.
Zeit, zwei Missverständnisse aufzuklären:Was mit unserer Familie geschehen ist - und was das Medium Games wirklich kann.
Es ist eine besonders geniale Pointe von Gone Home, dass es anscheinend wirklich und tatsächlich eines Settings bedarf, das so wahnsinnig unspektakulär und, tja, uncool ist, um uns aufzurütteln und zu zeigen, dass unser mechanisches "Verstehen" der Konventionen des Mediums ein Missverständnis ist und wir gefälligst die Augen - und auch die Teile unsere Gehirne abseits des "Play Brains" - verwenden sollen: Ein Haus in den banalsten 90er-Jahren, und hier missverstehen wir nicht nur buchstäblich, was mit unserer Familie geschehen ist, sondern wirklich, was das Medium kann, wenn wir es so erforschen wie sonst immer: Hier warten keine Monster, hier gibt es keine Leichen, das Rot in der Badewanne ist vom Haarefärben und die Geheimverstecke im Haus bergen keine Geheimnisse, sondern Papas Pornohefte. Das heißt nicht, dass es nichts zu entdecken gibt, dass wir gebeutelt werden und unser Gehirn anstrengen müssen. Ganz nebenbei beweist Gone Home mit leichter Hand, wie Erzählen im Spiel im Bestfall auch funktioniert - und dass das ermüdende Paradigma vom filmischen Erzählen nur ein Aspekt eines Mediums ist, das eben von der Interaktion lebt. Da können sich Spielberg und Lucas noch so demonstrativ als Ignoranten outen1 - das hier ist das Medium, dem das 21. Jahrhundert gehört wie das vergangene dem Film.
Dear Esther hat uns gezeigt, dass man im Spiel auch spazierengehen und dabei melancholisch meditieren kann; Gone Home zeigt uns, dass wir vom Medium gewohnheitsmäßig vielleicht das Falsche erwarten und es deshalb, so könnte man weiterdenken, auch meist bekommen. Alle, wirklich alle sollten es spielen und sich danach die Frage stellen, warum zur Hölle wir diesem Missverständnis so lange erlegen sind.
Danke, Fullbright Company. Allein für diese Lektion wird Gone Home Bestand haben.