Grand Theft Auto V – Ein Turm im Sandkasten

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Unlängst wurde das erfolgreichste Videospiel aller Zeiten veröffentlicht - und VGT hielt sich, nach teilweiser Vorberichterstattung, bislang vornehm zurück. Das ist zu wenig: David Ramirer ist seit Jahren dem Zauber von GTA verfallen, hat schreibend die Ankunft des fünften Teils herbeigesehnt und ist somit genau der Richtige, um nicht als Games-Journalist, sondern als begeisterter Spieler ein Phänomen zu würdigen, das man aus der Ferne wohl nur mit unfairer Befangenheit betrachten könnte.

Natürlich - wie wäre das nach Leigh Alexander auch möglich? - keine Review, sondern eine Liebeserklärung an eine ganz spezielle Welt hinter dem Bildschirm .

Einem Phänomen wie Grand Theft Auto in einem Text gerecht zu werden, ist nicht einfach. Tatsächlich wurde und wird bereits in etlichen Texten und auch ganzen Büchern versucht, den unterschiedlichen Aspekten und Problemen, die dieses Spiel in kultureller und politischer Hinsicht aufwirft, gerecht zu werden.

Zum Beispiel das Buch „Jacked“ von David Kushner: eine sehr interessante Betrachtung der Entstehung der GTA-Reihe; wie es dazu kam, dass Dan Houser und Rockstar Games, angefangen mit der ersten Version des Spieles über andere Titel wie Midnight Club und Bully zu internationaler Bedeutung in der Spieleindustrie aufstiegen. Sehr spannend zu lesen, wie Gegner und Freunde des Spiels sich an den Optionen aufheizen und aufregen, aber am erhellendsten daran: welch klar kalkulierte industrielle Mechanismen von Marketing und zielgerichteter Manipulation der Öffentlichkeit zu diesem Erfolg führen konnten.

Zweifelsohne ist das eine der Eigenschaften des Spiels, die ihm am meisten nutzt und schadet gleichzeitig. Weil Grand Theft Auto V einem beispiellosen, kalkulierten, erfahrenen Hype unterworfen war, und dieser wurde schon mehr als ein Jahr vor seiner Veröffentlichung inszeniert (ich erinnere mich noch gut, wie alleine die Schaltung einer Webadresse, eines Spielnamens und eines Datums, wann der erste Trailer zu sehen sein wird, Tsunamiwellen in Twitter und anderen Social Networks auslöste). Die Blicke auf dieses Werk sind von daher schon getrübt, es ist kaum eine unhysterische Betrachtung möglich. Die Hysterie hat hier viele Gesichter, einiges davon ist nachvollziehbar, anderes nur bedingt verständlich.

Jeder hat seinen eigenen Zugang zu dem Spiel. Da gibt es die einen, die bereits bei GTA III ausgestiegen sind, weil sie den Schritt in die dritte Dimension bei dem Spiel nicht mitmachen wollten. Andere wiederum (wie ich etwa) sind erst bei GTA III eingestiegen und dann über GTA San Andreas und GTA IV in die Serie hineingewachsen und haben den Sog gespürt, der von diesem Spiel ausgeht, oder auch die Schönheit in der narrativen Gewalt dieses Spiels erkannt (dazu später mehr). Für andere wiederum ist es ein Spiel unter anderen Spielen, ein Renn-Schieß-Crime-Spiel, welches man durchspielt, um Trophäen zu ergattern und dann bald ablegt. Wiederum andere sehen darin eine Gefahr, weil der Spieler in dem Spiel virtuelle Gewalt ausüben kann und das auch muss, wenn er im Spiel weiterkommen will. Wiederum andere lehnen die politischen Botschaften ab und fürchten  die gesellschaftlichen Auswirkungen eines Spiels, das derart oft gespielt wird und, wie sie meinen, einer unreflektierten Jugend Schaden zufügt.

Um meinen ganz eigenen Blick auf GTA V nachvollziehbarer zu machen, werde ich ein wenig zurückgehen und ein paar markante Punkte meiner Erfahrungen mit GTA IV beschreiben. Vorsicht: Spoiler.

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Der Hype um GTA IV war kaum weniger heftig als der um den fünften Teil, wenngleich das Spiel, das Rockstar Games dann ablieferte, den Hype nur teilweise erfüllte –und überraschenderweise viel mehr Niveau hatte als gedacht. In GTA IV wird weitgehend die Geschichte von Niko Bellic erzählt, einem serbischen Immigranten in Liberty City, der sich dort, frisch angekommen und bei seinem Cousin in einer schäbigen Wohnung untergebracht, zu behaupten versucht. Liberty City ist – das ist für den halbwegs versierten Betrachter leicht erkennbar – eine lebendige Parodie auf New York City, in all seiner Detailverliebtheit und Heruntergekommenheit.

GTA IV war eigentlich ein „Remix“ von GTA III, quasi mehr desselben auf höherem Niveau.

Die Geschichte von GTA IV steht klar  in der Tradition der Reihe. Bereits in GTA III kommt ein junger Mann in eine (damals noch nur rudimentär skizzierte) Metropole mit Namen Liberty City und arbeitet sich aus einer mickrigen Unterkunft im Rotlichtviertel über diverse kriminelle Aktivitäten hoch bis zu einer Wohnung in einer Plattenbausiedlung. Auch Niko Bellic „arbeitet“ sich hoch, von ein paar Taxifahrten für seinen Cousin abgesehen lediglich mit illegalen Aktivitäten. GTA IV war eigentlich ein „Remix“ von GTA III, quasi mehr desselben auf höherem Niveau. Das Niveau war bei GTA IV viel höher, weil die Geschichte die erzählt wurde, vielschichtig und komplex erzählt war, in einer Art und Weise, die revolutionär ist.

Die Linearität einer erzählten Geschichte ist in den GTA-Spielen immer durchbrochen und weitergesponnen durch „Missionen“ und deren einleitende Intros. Die Spielerin kann wählen, welche Mission sie als nächste spielen möchte. Es gehört zu den genialen Eigenschaften des Spiels, dass auf diese Art und Weise jeder Spieler seine Version des Spiels durchspielt. In Red Dead Redemption hat Rockstar Games meines Erachtens dieses Prinzip auf die optimale Art und Weise umgesetzt, weil „Hauptmissionen“ und „Nebenmissionen“ sich noch schöner verzahnten als jemals in einem GTA-Titel.

Doch GTA IV ging noch weiter. Zum einen gibt es ein „Thema“, das sich wie ein roter Faden durch das gesamte Spiel zieht, und fast jede Mission und Nebenmission „einfärbt“. Die Hauptthemen von  GTA IV sind Suche und Enttäuschung. Für mich ist das der zentrale Aspekt dieses Spiels: Da ist Niko Bellic, der in Liberty City nicht nur seinen Cousin besucht, sondern auch Rache nehmen will an einem ehemaligen Freund, der ihn im Krieg verraten hat, der sein Leben in diese verbrecherische Bahn gelenkt hat.

Da ist aber auch sein Cousin Roman, der in Liberty City „den amerikanischen Traum“ leben möchte, an dessen „Erfolgen“ man sehen kann, wie schwierig das ist. Da sind aber auch die vermeintlich erfolgreichen Freunde wie etwa Brucie Kibbutz, ein Steroidjunkie, der anabolikaabgefüllt sein eigenes Ego zu verstärken versucht, um seine familiären Blockaden und Neurosen zu überwinden oder auch, weitgehend, zu verdrängen. Da ist aber auch Marnie, eine junge, drogensüchtige Frau, welche Niko um Hilfe bittet, die auch in Liberty City leben wollte, und nur Drogen, falsche Freunde und Missbrauch fand. Oder Sarah, eine frisch geschiedene Frau, die den Glanz früher Tage hinter sich hat und Männer nachts betrunken anspricht, damit sie ihr sagen, wie heiß sie immer noch ist ... und, und, und.

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Das Potenzial an kleinen Geschichten in GTA IV ist sehr groß. Aus manchen davon ließe sich ein Film machen – einige sind an Filme angelehnt. Brucie etwa könnte ohne große Mühe von Vin Diesel dargestellt werden.

Aber das ist noch nicht alles. Denn die große Geschichte erzählt in einem großen Bogen von Nikos Weg durch die Wirren seines Lebens in Liberty City, wobei es in einigen Momenten, an entscheidenden Stellen Weggabelungen gibt, die das Sub-Thema des narrativen Teils des Spiels praktisch anwenden: Entscheidungen. So kann sich Niko an zwei Stellen im Spiel entscheiden, den einen oder den anderen Charakter, den er im Laufe der Handlung kennengelernt hat, zu töten.

Das ist im Grunde in einem solchen Spiel nichts Besonderes – da wird, mit Verlaub gesagt, nicht wenig an Personal um die Ecke gebracht. GTA III besteht im Grunde aus nichts anderem als einer Kette von Tötungen, die den Protagonisten in der Hierarchie nach oben bringen, unterfüttert und erklärt mit narrativer Notwendigkeit, weil die Charaktere, die daran glauben dürfen, den Protagonisten bedrohen, bzw. der Protagonist gezwungen wird, hier jemanden auszuschalten.

In GTA IV aber sind diese Stellen emotional aufgeladener. Jeder der Charaktere, die zur Auswahl stehen, ist zu Niko Bellic eine Beziehung eingegangen. Es ist nun an der Spielerin, für Niko Bellic zu entscheiden, wen er umbringen wird. Diese Stellen sind klassische moralische Dilemmata, die man fast körperlich spüren kann. Die Auswirkungen im Spiel, in der Story, sind deutlich, aber da es sich immer um Nebenstränge der Handlung dreht (ausgenommen das Ende) nicht entscheidend. Deutlicher sind die emotionalen Auswirkungen für den Spieler, der an diesen Beispielen gut spüren kann, wie schmerzhaft ein Mord sein kann. Der absolute Höhepunkt des Spiels (für mich) ist die Stelle, wo Niko sich gar entscheiden kann, den Mann, wegen dem er nach Liberty City gekommen ist, zu töten, oder ihn leben zu lassen. Beides ist möglich, und in den Gesprächen mit seinem Cousin, als beide vom Ort des Geschehens wegfahren, reflektiert sich die ganze Sinnlosigkeit der Rache, ganz egal, wie sich Niko auch entschieden hat: Solches in einem Computerspiel umzusetzen, ist einzigartig.

Das Ende des Spiels ist auch höchst bemerkenswert, da der „Sieg“, den Niko erringt (ganz gleich, welches Ende auch gewählt wird), mit großen persönlichen Verlusten einhergeht. In den letzten Momenten des Spiels ist die Immersion des Spiels so stark, dass man – nach der ganzen Odyssee, die Niko erleben und erleiden musste – diese Geschichte mit der imaginären Stadt Liberty City verknüpft hat, mit ihren ganzen Details und Bildern. Mir standen – ich gestehe das ganz offen – Tränen in den Augen, als ich das Ende das erste Mal spielte und erlebte. So gerührt hat mich manchmal ein Film. Aber Spiel gibt es nur eines, das dies schaffte: GTA IV. Wenn ich jetzt, nachdem ich das Spiel durchgespielt habe, in Liberty City mit einem Auto herumfahre, ist die Stadt aufgeladen mit Erinnerungen an entscheidende Missionen aus Niko Bellics Leben. Liberty City ist somit quasi ein „Sandkasten mit Geschichte“.

Ich liebe das rostige Wrack des "Vigero" in GTA IV, der so ganz anders ist und so perfekt in dieses herunter-gekommene Liberty City passt

Zu den Schönheiten des Spiels gehört aber auch und vor allem die Stadt, also das Setting, in dem die Geschichte eingebettet ist. Manche haben kritisiert, dass in der Stadt „weniger zu tun ist“ als noch in GTA San Andreas, dem Vorgängertitel, welcher mit sage und schreibe drei Städten aufwarten konnte, und das mag stimmen. Aber dafür ist die Stadt weit lebendiger und auf eine heruntergekommene Art und Weise schöner, als das in San Andreas je der Fall war.

Was gefiel mir an den Details in Liberty City aus GTA IV am besten? Es wird viele verwundern, aber es handelt sich um ein einziges Auto. Unter den vielen Automarken im Spiel gibt es den „Vigero“, einen eher unscheinbaren Wagen, ein Klassiker, der in diversen Farben im Spiel auftaucht. Diesen Vigero aber gab es (anders als alle anderen Wagen) auch in einer Variante, die mehr oder weniger wie ein Wrack auf Rädern aussah: rostiger Lack, fehlender Kotflügel, schwarzer Qualm aus dem Auspuff. Dieses Wrack taucht wie selbstverständlich immer wieder im Spiel auf, gefahren und geparkt. Ich liebe diesen Vigero, der so ganz anders ist, der in diese Stadt so perfekt passt und auch eine Art „fahrbares Ebenbild“ von Niko Bellic ist.

Genau dieser Vigero bringt uns nun endlich zu GTA V.

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Wenn GTA V ein Auto ist, dann ist es gegenüber dem Vorgängermodell, das inzwischen scheinbar in die Jahre gekommen ist, gepimpt und aufgemotzt bis zum Abwinken. GTA V ist ein wunderschöner Bolide. Es blitzt und brummt, dass es eine Freude ist. Die elementare Frage aber ist: Wo fährt Rockstar Games mit diesem neuen Auto hin?

Narrativ ist in GTA V keine einzige Verbesserung zum Vorgänger festzustellen, vielmehr ist die Geschichte eindimensionaler als erwartet. Obgleich drei Protagonisten steuerbar sind, die unterschiedlicher kaum sein könnten, ist die narrative Gewalt, also der Sog durch moralische Implikationen, weit weniger heftig. Dazu kommt, dass das Steuern von drei Personen es auch eher schwierig macht, der Handlung zu folgen – möglicherweise ist das auch der Grund, warum die Story als Ganzes den Ball eher flach hält. Ich muss hier aber einräumen, dass die Idee, drei Protagonisten mehr oder weniger gleichberechtigt durch eine Story zu steuern, phänomenal ist, doch es es ist eigentlich kein Wunder, dass das dann zu Lasten der Gesamtimmersion geht. Anders als in früheren Titeln kann man hier sich nicht mit einer Figur identifizieren.

So bleibt die Option, zwischen den Charakteren zu wechseln, auch ein Sandkasten im Sandkasten, der zwar innovativ ist, aber einer wertvoll erzählten Geschichte nicht dient. Denn die Story ist leider nicht bemerkenswert. Weder bemerkenswert originell, noch bemerkenswert neu. Man hat solche Storys schon in etlichen Filmen gesehen, da ist wenig Überraschendes.

Los Santos ist wirklich liebevoll gestaltet, aber die Kontraste wie in Liberty City fehlen mir.

Was übrigbleibt, ist die Welt, das Setting, der Sandkasten. Wenngleich dieser Sandkasten enorm größer ist als noch Liberty City es war, die Physik enorm lebensechter gemacht wurde (man ist nach nur wenigen Kugeltreffern hinüber, Stürze aus tausenden Metern Höhe in Wasser enden tödlich, Autos explodieren nicht mehr nach ein paar Zusammenstößen, usw.) und die Möglichkeiten der Beschäftigung erweitert wurden, ist die Möglichkeit, visuell hängenzubleiben geringer. Ich erkenne das für mich daran, dass es keinen Vigero gibt. Die Stadt Los Santos ist wirklich liebevoll gestaltet, aber die Kontraste wie in Liberty City fehlen mir. Wirklich heruntergekommenes gibt es hier nicht, alles ist schöner, aber auch glatter.

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Überraschend ist, dass das Frauenbild gegenüber dem Vorgänger deutlich platter geworden ist. Es gibt zwar  immer noch keinen weiblichen spielbaren Charakter, aber ich glaube auch nicht, dass eine solche Variante dem ständigen Vorwurf des Sexismus entsprechend begegnen könnte: Denn Sexismus ist ein Teil des Spiels, weil GTA ganz bewusst die Codes unserer durch Medien geprägten Welt und vor allem der amerikanischen Kultur reflektiert. Wir begegnen in dem Spiel durchgehend Stereotypen und Karikaturen – ob es sich nun um die spielbaren Hauptcharaktere oder um eine Prostituierte am Straßenrand handelt. Sexismus ist leider Teil unserer Welt, also ist es sogar wesentlich, dass GTA diesen Aspekt widerspiegelt – wie es auch Korruption, Verbrechen, Leben, Sterben, Dummheit, ökonomische Katastrophen, Gier, Geld, Oberflächlichkeit, Gewalt, Hybris und Technik widerspiegelt.

Was mir an der Diskussion rund um GTA V  jedoch am meisten gegen den Strich geht, ist die fehlende Ernsthaftigkeit, mit der sie geführt wird. Es ist fraglos so, dass GTA V ein verteufelt wahnsinnig irrsinnig finanziell erfolgreiches Phänomen ist, das Millionen Menschen spielen und sehen. Aber es ist auch – und das steht für mich außer Frage – zunächst erst einmal ein Kunstwerk.

Grand Theft Auto V ist ein lebendes Bild mit vielen Facetten, dem die Spielerin auf viele Weisen begegnen kann. Es gibt manches zu finden – etliches zum Annehmen, vieles zum Ablehnen, einiges zum Mitnehmen.

Mein Zugang zur Welt von GTA ist ein malerisch-bildnerischer. Daher ein abschließender Satz aus diesem Bereich:  Wenn es ein Videospiel gibt, das den Turm zu Babel begehbar macht, dann ist es GTA V. Nicht mehr, und nicht weniger.

David Ramirer wurde 1970 in Wien geboren und absolvierte die Wiener Kunstschule im Bereich Malerei. Im Anschluss  unterrichtete er zehn Jahre lang diverse Kurse zu bildnerischen Themen. Seither Aktivitäten im Bereich Malerei, digitaler Grafik, Illustration, Fotografie und Improvisationsmusik. Seit einigen Jahren intensive Beschäftigung mit dem österreichischen Autor Heimito von Doderer, seit 2013 auch Vorstandsmitglied in der Heimito von Doderer-Gesellschaft. 
David Ramirer ist seit 2010 glücklich verheiratet und lebt in Wien und Wuppertal.
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