Spiel des Monats: Lose your Mind. Eat Your Crew.

Ja! Bitte, hier! Ich, ich, ich!”, rufe ich, als mir Sunless Sea verspricht, mich meines Verstandes zu berauben, mich zu ängstigen und mich verzweifeln zu lassen. Ich liebe den Ausflug zum Abgrund. Was wäre da besser geeignet als die Unterzee, ein versunkener Ozean voller Nachtmahre und mannigfaltig Gefahren für Leib und Seele?

In den kleinen Texthäppchen, die ich in den nächsten 20 Stunden immer wieder aufschnappen und zerlesen werde, ist ein Ahnen, ein Locken. Ein Versprechen undeutlich gemurmelter Geheimnisse im Nebel geflüstert. Wenn ich nur weiter spielte, wenn ich vielleicht mehr Geduld hätte, dann eröffnete sich für mich das Grauen bestimmt. Bei aller Vorfreude bin ich des Wartens irgendwann müde.

Denn am Ende löst Sunless Sea sein verlockendes Versprechen von Furcht und Wahn nicht ein. Immer wieder richtete ich meine Augen auf die rote Linie neben dem kleinen Totenkopf am Bildschirmrand - auf den Terrorwert. Ich erwartete, meine Angst würde mit dem Terrorlevel irgendwie synchron gehen. Das wohlig-gruselige Gefühl der Furcht würde sich mit dem Anstieg des Terrorwerts langsam, aber stetig in mir ausbreiten, meine Augen immer weiter werden und ich bei einem Wert von 90 nachts nicht mehr ruhig schlafen können. Erleben und Mechanik passten schließlich nicht zusammen. Der Terrorwert blieb als Zahnrädchen der Furcht enttäuschend und damit für das Spiel bedeutungslos.

In dem klassischen Cthulhu-Pen-and-Paper-Rollenspiel finden wir einen geistigen Vorvater, der eine wesentlich sauberere Lösung für diese Spielmechanik gefunden hat. Das Cthulhu-RPG benutzt zwar statt des negativen Terrors den positiven Wert geistiger Gesundheit. Das Prinzip ist aber zunächst das gleiche: Der Wert verändert sich in beiden Fällen durch Handlungen, Erfahrungen oder Erkenntnisse der Spielerin. Zudem kann gegen diesen Wert getestet werden. Eine hohe geistige Gesundheit verträgt die Konfrontation mit Schrecklichem eher als eine niedrige. Die Konsequenzen aus solchen Tests verändern den Handlungsspielraum der Figuren.

Wer dem Wahnsinn nahe ist, kann zum einen nicht so viele sinnvolle Tätigkeiten ausführen. Sinkt die geistige Gesundheit auf null, verfällt die Figur dem Wahn. Zum anderen ist die Figur aber auch empfänglicher für alles, was mit dem Horror zusammenhängt. So werden Figuren mit einer hohen Empfindlichkeit für Wahnhaftes Einblicke in Deutungsebenen ermöglicht, die “stabilere” Charaktere nie erhalten. Spielerinnen können dann andere Geschichten erleben und gleichzeitig auch Hinweise für die Lösung von Problemen finden. Das Spiel mit dem Wahn ist ein Spiel mit dem Feuer, faszinierend, hochexplosiv und brandgefährlich.

Das Spiel mit dem Wahn ist ein Spiel mit dem Feuer, faszinierend, hochexplosiv und brandgefährlich.

Der Rahmen in Sunless Sea ist prinzipiell ähnlich, hat aber während des Spielverlaufs viel weniger Konsequenzen und wirkt daher ein bisschen feige. Eine vertane Chance für den Terror. Der steigende Wert könnte zunächst mein Spiel behindern, mich immer mehr stören, mir das Reisen, das Erkunden, das sinnige Handeln vereiteln. Ich dürfte nicht verhandeln, nicht einkaufen, keine Berichte schreiben können, damit der Wert auf einer mechanischen Ebene Konsequenzen hat. Während die anderen Werte aufgebraucht oder getestet werden können, verhindern Terrorwerte ausschließlich bestimmte Interaktionen. In Sunless Sea ist das zu wenig. Denn dies ist ein Spiel von Erkundung, Lesezauber und Atmosphäre und keines von Interaktion. So wird in einem solchen Fall nur eine marginale Handlungsoption ausgebremst, ohne eine Alternative im Spielverlauf anzubieten. Erzählerische oder emotionale Folgen hat dies kaum. Als Spielmechanik der Begrenzung ist der Terror nicht zu Ende gedacht.

Alternativ könnte mir der steigende Terrorlevel neue Einblicke gewähren, die weniger Wahnsinnigen nicht möglich sind. Schließlich hat der Mensch immer auch Angst vor dem Wahn seiner Kranken, während er in seinen mutigeren Stunden rätselt, wie es denn sein mag, Wahn zu erleben. Experimente mit halluzinogenen Drogen sind so eine Art mehr oder weniger kontrollierter Einblicke. Ein hoher Terrorlevel könnte also ganz andere Zugänge zur Narration ermöglichen, andere Ebenen eröffnen, in denen gezeigt wird, was einem weniger Wahnhaften entgeht. Es wäre eine interessante Herausforderung den Terrorwert in einem Bereich zu halten, bei dem man in dieser halluzinierenden Welt der Götter und Dämonen verbleibt und trotzdem nicht völlig der Realität entgleitet. Das Spiel mit der Wirklichkeit innerhalb einer Fantasie könnte sich als spannendes Experiment in der Narration erweisen. Leider verspielt Sunless Sea auch diese Möglichkeit. Mit steigendem Terrorwert verweisen die Textschnipsel auf ein paar Kleinigkeiten, Kontakte mit den Göttern, Wesen aus dem Wasser. Mehr nicht.

Nun ist Sunless Sea ein Spiel mit starker literarischer und erzählender Prägung. Die mechanische Unzulänglichkeit könnte hier durch ein furchteinflößendes Leseerlebnis kompensiert werden. Die kleinen Textschnipsel deuten zwar immer wieder auf mehr hin. Auf Dinge, die man besser ruhen lassen sollte, die andere um ihre geistige Gesundheit gebracht haben. Leider verbleibt es dabei. Es fehlt das beunruhigende Scharren und Kratzen an der Amygdala, das Erinnerungen an eine reptilienhaften Zeit unserer Phylogenese hervorruft. Fürchterliche Schemen, die sich nur durch eine Abkopplung der Erfahrung ins rationalisierende Großhirn verdrängen aber nie verarbeiten lassen.

Das ist das Metier von E.A. Poe und in der Nachfolge H.P. Lovecrafts, der großen Meister dieses subtilen Horrors. Eines Horrors, der unter die Haut kriecht und ohne billige Schreckmomente und lautes Getöse auskommt. Die Erzähler dieser Geschichten berichten immer über Dinge, die längst vergangen sind. Skeptiker erzählen vom Unfassbaren, das ihnen oder gar anderen widerfahren ist. Oft genug hat der Erzähler die Dinge gar nicht erst aus erster Hand erlebt, denn ansonsten wäre er dabei dem Wahn verfallen. Er berichtet stattdessen von Dingen, die er durch seltsame Zufälle erfahren oder recherchiert hat. Dinge, denen er nachgespürt hat und nur deshalb überhaupt darüber berichten kann, weil er es nicht selbst erlebt hat.

Das Erzählende, das Wiedergebende, ohne es erlebt zu haben, verleiht dem Horror eine besondere Ebene. Andeutungen, Unklares und schemenhafte Hinweise eigenen sich hervorragend dazu, unsere Fantasie anzuheizen und sie durchdrehen zu lassen. Wir erfahren von der Angst und dem Terror anderer. Über den Weg unserer Spiegelneuronen und der emotionsabrufenden Amygdala steigern wir das Gefühl in kontrollierter Weise. Auf diesem indirekten Wege können wir uns dem Schrecken in kleinen Schritten nähern, ohne uns direkt dagegen wehren zu müssen. Der Weg Lovecrafts über mehrere Zwischenvermittler lullt unsere scharf auf Verteidigung getrimmten psychischen Kompetenzen sanft ein und lässt den Schrecken eher als wohliges Kitzeln denn als Erfahrung echten Grauens erscheinen. Wir sind unterhalten, aber nicht traumatisiert. Wir sind bereit, uns dem Autor und seiner Geschichte auszuliefern. Genau diese Auslieferung macht den Horror möglich. Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein sind die besten Zutaten für Angst.

Das Videospiel und in diesem Sinne auch Sunless Sea hat hier zunächst ein grundlegendes Problem: Wir Spielerinnen erleben die Handlungen recht hautnah mit und sind oft genug die Protagonisten. Wir sind keine hilflos ausgelieferten Opfer sondern aktiv Handelnde, der Mittelpunkt eines jeden Spiels. Einem Spieler Hilflosigkeit zu vermitteln, ohne ihn dabei gnadenlos zu frustrieren, stellt in einem Spiel eine große narrative und mechanische Herausforderung dar. (Ein gelungenes Beispiel hierfür ist Depression Quest, das sich zwar nicht mit Horror, dafür aber stark mit Hilflosigkeit befasst.) Der Modus des Medienkonsums bei einem Spiel ist durch den Aspekt der Interaktivität in seinem Wesen aktiver als bei einem Text oder einem Film. Jede Art von Aktivität gibt einem Menschen aber das Gefühl von Selbstwirksamkeit und damit das Gegenteil von Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein.

Horror hat immer auch etwas mit Vertrauen zu tun.

Das vorher erwähnte Cthulhu-RPG trifft als Medium mit Interaktion der Konsumenten auf die gleichen Probleme. Es gibt Spielgruppen, die von großartigen Horrorerlebnissen berichten. Gefragt, was sie als ausschlaggebende Faktoren bezeichneten, sind das immer die Fähigkeiten des Spielleiters die Umgebung und die Geschichte zu kontrollieren. Kontrolle liegt in der Hand des Leiters, wird von den Spielern an diesen vertrauensvoll übergeben. Horror hat immer auch etwas mit Vertrauen zu tun. Der Spielleiter kontrolliert Licht, Geräusche und Atmosphäre des Spielraums. Ablenkendes wird ausgeblendet. Die Spielerinnen haben in solchen Konstellationen sehr wenig Handlungsoptionen, deren Rahme ist sehr stark vorgegeben. Die Geschichte steht von vornherein fest und die Spielerinnen haben fest vorgeschriebene Rollen, die sie zwar kreativ ausfüllen, von deren Rahmen sie aber nicht abweichen dürfen.

Es geht weniger darum, die Handlungen einer Figur zu steuern, sondern deren bereits vorher geschriebene Geschichte nachzuerleben und nachzufühlen. Der Spieler mag zwar intensiver involviert sein, als wenn er nur die Geschichte liest, insgesamt aber gibt er sich einer passiven und auf Hilflosigkeit basierenden Unterhaltung hin. Das System bricht immer dann zusammen, wenn die Spielerinnen tatsächlich die Kontrolle über ihre Figuren haben und damit den Verlauf der Geschichte verändern wollen. Cthulhu-RPG als Horror scheitert in solchen Fällen.

Sunless Sea wirkt hier wie eine Hydra mit zwei Köpfen, zwischen denen es sich nicht entscheiden kann. Das Spiel scheint beiden Traditionen verpflichtet sein zu wollen: Der klassischen, literarischen Erzählung und der Handlungsfreiheit offener Spielwelten. Gelungene Beispiele interaktiver Narration fallen heutzutage in zwei Gruppen: Fest gescriptete Geschichten, deren Häppchen zwar mit Verzweigungen, aber grundsätzlich linear durch Handlungen im Spiel Schritt für Schritt freigeschaltet werden. Neben dem schon oben erwähnten Depression Quest hat 80 Days dies erfolgreich umgesetzt. Oder die klassischen RPGs von Bioware, die ihre Geschichten durch Dialogpfade entfalten. Dem gegenüber stehen Geschichten, die ausschließlich aus den Entscheidungen des Spielers und dem Verlauf seines Pfades durch zufällig algorithmisch erzeugte Elemente entstehen. In den offenen Welten dieser Spiele übernimmt die prozedurale Generierung den Stichwortgeber für die Inspiration des Spielers, dem sich dadurch die ganz eigene, individuelle Geschichte entspinnt. Out there oder Shadows of Mordor zeigen diese Herangehensweise. (Ken Levine hat kürzlich über die noch nicht ausgeschöpften Möglichkeiten dieses Erzählmodus für Videospiele geschrieben). In der ersten Variante entsteht die Furcht, der Horror ganz klassisch aus dem Ausgeliefertsein dem Erzähler und der Erzählung gegenüber. In der zweiten sind wir den Zufällen und dem Fatum einer “höheren” Macht, der des Algorithmus, ausgesetzt. Schicksal und Zufall, also wieder eine Art von Kontrollverlust, werden hier zu den tragenden Elementen der menschlichen Angst.

Vielleicht kann man Sunless Sea zugutehalten, dass es den Spagat zwischen den Welten versucht hat, dass es sich redlich bemüht hat. Funktioniert hat dieser Versuch nicht. Es bleibt zu sehen, ob wir in Zukunft ein Spiel sehen werden, dem dies gelingt, oder ob dies als Atavismus einer passiv-literarischen Prägung in die Geschichte der interaktiven Unterhaltung eingehen wird.

Die Illustrationen sind Ausschnitte aus Werken des polnischen Surrealisten Zdzislaw Beksinski