Spielen gegen den Strich: Der Boden ist Lava

Dies ist ein Gastbeitrag von Bernd Kilga. Er spielt und programmiert, seit er 12 ist, und schwört trotz @console-Twitter-Account auf Keyboard und Maus.

Als Kinder konnten wir ohne Mühe alles intuitiv in ein Spiel verwandeln. Es war keine große Sache, über jede erdenkliche Situation einfach ein Spiel zu stülpen, um den Moment zu verbessern, und sei es nur zu behaupten, der Boden bestünde aus Lava und dürfe nicht direkt berührt werden. Es war ein Leichtes, eine Folge Raumschiff Enterprise direkt nach der Sendung mit anderem Ausgang oder völlig unterschiedlichem Charakterverhalten nachzuspielen; zumindest hat Kirk bei uns nie rumgeschmust. Sogar Spiele selbst waren niemals vor Verfremdung sicher: Über Generationen hinweg überlieferte Spielregeln wurden nach Gutdünken verändert und auf die verfügbare Zeit, den verfügbaren Raum oder die verfügbaren Möglichkeiten angepasst. 

Die Fähigkeit, sich als aktiver Teil des Spiels zu sehen, verblasst jedoch mit der Zeit. Mit dem Älterwerden akzeptieren wir nach und nach die Vorgaben von Produzenten und respektieren Spiele für das, was sie sind, anstatt sie als Plattform für Kreativität zu verstehen und zum Beispiel Spielziele an unsere eigenen Vorlieben anzupassen. 

Ein simples Beispiel für eine vom Spiel bereitgestellte Abweichung ist in der Sim City-Reihe zu finden: Der Spieler hat die Option, freiwillig ein Desaster heraufzubeschwören – Vulkanausbrüche, Aliens, Tornados oder für Puristen eine simple Feuersbrunst. Man verändert das Spielziel kurzfristig und kümmert sich nun darum, wieder Ordnung zu schaffen. Aber muss jede Möglichkeit wirklich aus dem Spiel selbst stammen? Muss es echt vorprogrammiert werden? Können wir nicht selbst das Alien, der Tornado oder das Feuer sein? 

So oder so ähnlich verfahre ich mittlerweile bei vielen Spielen.

Ich wollte mich seit Längerem an einem komplexen Flugsimulator versuchen, wusste aber, dass ich niemals die Zeit haben werde, auch nur einige wenige der vorbereiteten Missionen zu fliegen. Dazu kommt, dass mein Interesse nur dem Simulator galt, nicht den Szenarien oder nachgestellten Kriegsschauplätzen. Ich musste mich also selbst um die Mission kümmern. Mein Spiel im Simulator war, dass ich mir vorgestellt habe, auf einer Insel gestrandet zu sein und nur wenige Stunden verbleiben, bevor der Vulkan ausbricht und alles verschlingt. Zur Flucht sollte eine alte Propellermaschine dienen, die sich praktischerweise auf einer verlassenen Militärbasis in direkter Nähe befand. Die wichtigste Regel lautete, dass ich nicht nachlesen durfte, wie die Maschine gestartet wird und ich alles durch Probieren herausfinden musste – wie das eben so ist, wenn man auf einer gereizten Vulkaninsel gestrandet ist. 

Das Ganze hat mich diverse Abende prima unterhalten. Die ersten Versuche waren recht zäh, da ich bis dato nur mit Arcade-Flugsimulatoren zu tun hatte. Ein vollständig simuliertes Flugzeug mit allen Schaltern und Hebeln, wie es bei DCS World der Fall ist, war für mich absolutes Neuland. Ich wusste nichts über die Elektronik von Propellermaschinen oder was genau für die Startprozedur benötigt wird. 

Nach drei Wochen und vielen Fehlschlägen war es dann so weit: Mir ist die Flucht endlich gelungen. Suck it, Volcano! 

Fallout 3 habe ich dann und wann abends über einen Zeitraum von gut drei Jahren gespielt, mit einer Realismus-Modifikation (Hunger, Durst, Müdigkeit) und ohne „Schnellreise-Funktion“, sprich: Ich bin stets alles zu Fuß gewandert, da ich unbedingt ein Gefühl für die Zeit und die Landschaft kriegen wollte. Nach einigen Wochen konnte ich mich schon vollkommen selbstsicher anhand diverser Gesteinsformationen am Horizont orientieren sowie Entfernungen abschätzen und entsprechend Proviant einpacken. Mittels von mir selbst programmierten Veränderungen direkt im Spiel habe ich kleinere Verstecke mit Schlafmöglichkeit erstellt und schlussendlich meine eigene Hütte mit warmem Bett und surrendem Kühlschrank gebaut. 

Erweiterung der Welt mittels Modding war also für mich Teil meines Spiels, die eigentliche Story eher sekundär, da die fehlende Schnellreise-Funktion Quests stark in der Hintergrund rückt: Man macht bei Missionen erst dann weiter, wenn man zufällig mal wieder in der Nähe ist. Im Kopf habe ich jede Figur, die etwas von mir wollte, zusätzlich gefragt: „Ist aber eh nicht dringend, oder?“ Weiters habe ich mir kein Speichern vor dem Stehlen erlaubt, und im Rucksack waren maximal zwei Waffen plus mehrere handvoll Medikamente und fünf Handgranaten. Für besonders lange Trips habe ich mehr gepackt. 

In Europa Universalis IV habe ich die Gesinnung des amtierenden Herrschers jeweils gewürfelt. Sobald der Thronfolger an die Macht kam, legte ich erneut fest, wie hart oder locker gegen Aufstände vorgegangen wird – zum blanken Entsetzen meiner Allianzen. Meine eigene Erklärung war: Man kann eben nicht wirklich steuern, wie die Kinder mit dem Erbe umgehen. Das Spiel selbst vergibt Thronfolgern bereits unterschiedliche Eigenschaften wie zum Beispiel Diplomatie oder Kriegsführung. Verstirbt also ein Regent, gibt es leichte Kurswechsel. Ich wollte aber so spielen, dass ich auf starrköpfige, irrationale Prinzen Rücksicht nehmen muss. Die Spiele wurden so intensiver, und einfachere Länder-Szenarien wie Austria oder Castile um einiges spannender. 

Fire Emblem – Shadow Dragon erzählt die übliche Geschichte von Ehre und Verrat in irgendeinem Königreich. Bei taktischen Rollenspielen interessiert mich die Story in der Regel nicht sonderlich, ich wusste jedoch von früheren Spielen der Fire Emblem-Serie, dass die taktischen Kämpfe, besonders bei hohem Schwierigkeitsgrad, angenehm fordernd sind. Dennoch wollte ich mehr: Eine Schlacht gilt als gewonnen, wenn man den letzten Gegner überwindet und der Prinz sowie diverse Schlüsselfiguren überleben. Die Gefallenen bleiben zurück, und im Zuge der Story kommen neue Begleiter dazu. Mein eigenes Ziel war, dass absolut niemand in meinem Regiment stirbt, nicht mal namenlose Speerträger. Nicht nur die primären Figuren zu schützen, verändert das Spiel unglaublich stark. Die benötigten Manöver, um alle durchzubringen, erforderten ein hohes Maß an Vorsicht, viel Trial-and-Error und eine genaue Planung, wie Erfahrungspunkte verteilt werden. Ich wusste zuerst nicht mal, ob es Situationen geben wird, an denen einfach das eine oder andere Redshirt im Namen der Story unausweichlich in eine Axt rennt, aber es kamen schlussendlich alle im Finale an: Der Burghof war vollgepackt mit Helden. Dem Spiel selbst war das alles einerlei. Zwar gab es dann und wann Dialoge mit Personen, die eigentlich bereits lange hätten tot sein sollen, aber das war es dann auch schon. 

Das Spielen gegen den Strich hört sich nicht wirklich wie ein Kompliment für einen Spiel-Designer an, Kritik ist es jedoch auf keinen Fall. Spieler wollen Teil des Spiels sein und werden immer versuchen, sich Freiräume und Vorteile zu erkämpfen. Es kann nicht gesteuert werden, in welchem Maße sich der Spieler selbst einbringt, jedoch kann dafür gesorgt werden, dass keine zu engen Grenzen gezogen werden. Zum Beispiel zwingt Mario Kart den Spieler nicht dazu, in die richtige Richtung zu fahren. Wessen einzige Chance auf persönliche Genugtuung es ist, durch absichtliches Zurückfallen den erstplatzierten Spieler zu sabotieren, dem sei dies gegönnt. 

Für mich stellt sich jedoch die Frage, ob ein Spiel so gespielt werden soll, wie es vom Designer ausgedacht wurde, schon lange nicht mehr. Ich bin als Erwachsener – alleine schon aus zeitlichen Gründen – nicht mehr in der Lage, Computerspiele ohne Verfremdung von Spielzielen konsumieren zu können. Was mich aber überraschte, war, wie einfach es ist, viele Spiele in eine Sandkiste umzuwandeln, wenn man sich nur auf seine Kindheit besinnt und sich überlegt, wo man überall am Boden Lava platzieren kann.

Dies ist ein Gastbeitrag von Bernd Kilga.

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