Style is King: Atemberaubende Spielegrafik fernab des Fotorealismus
Als der französische Maler Paul Delaroche 1839 zum ersten Mal eine Fotografie zu Gesicht bekam, soll er der Legende nach erschüttert den Tod seiner Zunft ausgerufen haben. Heute, mehr als eineinhalb Jahrhunderte später, wissen wir: Die Befreiung der Malerei vom Zwang zum Realismus läutete nicht das Ende, sondern aufregende neue Kunstepochen ein. Beim Medium Games zeichnet sich ein ähnlicher Wandel ab.
Im Jahr 2013 sehen Spiele selbst für geübte Beobachter oft täuschend real aus. Screenshots von Rennspielen lassen sich kaum mehr von Fotografien unterscheiden, cineastische Inszenierungen wie "Ryse: Son of Rome" oder "Beyond: Two Souls" bringen neben täuschend echt rekonstruierter Architektur endlich auch glaubwürdige Menschen auf die Bildschirme. Das ewige Ziel, Fotorealismus in Spielen zu erreichen, ist praktisch erreicht. Und jetzt?
Das dauernde Streben der Gamesbranche nach Fotorealismus war letztlich ein technisches Ziel, kein künstlerisches", meint Jesse McGibney. "Es ist ein bisschen, als ob man zeichnen lernt: Zuerst studiert man Struktur und Anatomie und zeichnet nach Modellen. Und sobald man realistisch zeichnen kann, kann man beginnen, stilistisch Neues auszuprobieren." Der US-Amerikaner arbeitet als Art Director bei Alientrap Games gerade an "Apotheon", einem Spiel, das visuell mit mehr als 2000 Jahre alten Vorbildern ganz eigene Wege beschreitet.
"Die klassische griechische Keramik mit ihren klaren, schwarzen Silhouetten bot für uns den perfekten Stil. Es ist eigentlich überraschend, dass wir die Ersten sind, die diese klaren, ästhetischen Formen verwenden. Und es gibt noch so viel Potenzial: Die gesamte Kunstgeschichte, von der Höhlenmalerei bis zur modernen abstrakten Kunst, würde fantastische Settings für Spiele abgeben."

Für uns persönlich ist Fotorealismus uninteressant", meint auch Clemens Scott von Broken Rules. Der kommende Titel des Wiener Studios setzt auf Abstraktion: In "Secrets of Raetikon" navigiert man als Vogel durch geheimnisvoll abstrakte alpine Berglandschaften. "Wir wollten klare Kanten, leuchtende Farben und Dreiecke als visuelle Elemente. Wir haben viel experimentiert, bis ich eines Tages begonnen habe, alpine Tiere auf Holzbretter zu malen. Diesen Stil haben wir in das Spiel übertragen und dort weiterentwickelt", so der Art Director. Die ästhetischen Inspirationen? Der legendäre Comic-Künstler Jean "Moebius" Giraud, Calvin & Hobbes-Schöpfer Bill Watterson oder Pionier Winsor McCay.
Den Mut zum Risiko, grafisch etwas anderes zu versuchen, sieht Scott nicht zufällig bei kleineren Firmen. "Riesenproduktionen mit bombastischem Budget haben oft mehr zu verlieren und setzen deshalb traditionell auf Bewährtes. Kleine Studios müssen auf Innovation setzen, um hervorzustechen."
US-Entwickler Blackpowder Games besteht aus Industrieveteranen, die mehr als 15 Jahre lang an großen Titeln gearbeitet haben. Die Unabhängigkeit von Herausgebern ermöglicht Experimente, wie beim First-Person-Spiel "Betrayer". Die höchst detaillierte, naturalistische Inselkulisse wird im Schwarz-Weiß-Look dargestellt, mit nur wenigen in Signalrot hervorstechenden Elementen.
"Es ist toll, Spiele zu sehen, die Fotorealismus nehmen und daraus etwas Interessantes machen."
"Unser Stil fühlt sich für mich an wie die wunderschönen, düsteren Märchenillustrationen vom Anfang des 20. Jahrhunderts oder aber die Radierungen Gustave Dorés zu Dantes Göttlicher Komödie. Er wurde auch schon mit der Filmästhetik Ingmar Bergmans verglichen - sehr schmeichelhaft! Die Stilisierung ist auf die Farbpalette beschränkt - besonders, wenn der Wind die Vegetation im Spiel bewegt, sieht man aber den Reichtum der Details", erklärt Art Director David Longo.
Für Longo hat das lange Streben nach Fotorealismus auch künstlerische Fortschritte gebracht. "Es ist toll, Spiele zu sehen, die Fotorealismus nehmen und daraus etwas Interessantes machen. Wie etwa das ansonsten nicht realistische "Bioshock Infinite" mit dem Licht spielt, oder wie Spiele wie "Journey" bei abstraktem Grafikstil mit sehr realistischen Effekten wie Dunst, Sand oder Wasseroberflächen umgehen - all das kommt vom Streben, ein Element real darzustellen."

Tatsächlich vermischen sich im blühenden Gamesdschungel ständig Realismus und Abstraktion, Alt und Neu, Traditionen aus Zeichentrick, Illustration und Grafik. Längst ist auch die früher einzig mögliche Pixelgrafik zum eigenen Stilmittel aufgestiegen und feiert im nicht enden wollenden Retro-Revival ihr Gegenmodell zum Realismus.
Was oft zur nostalgisch-bequemen Pose erstarrt, verwandelt sich in den Händen begabter Grafiker aber sogar auch zum aufregend frischen Stilmittel. Etwa in "Hyper Light Drifter", einem die nostalgische 16-Bit-Ästhetik feiernden Kickstarterprojekt, mit dem der Amerikaner Alex Preston tausende Unterstützer überzeugen konnte - sein an die Ära von "Zelda: A Link to the Past" erinnernder und dennoch unverkennbar moderner Stil findet besonders in Zeiten täuschend echter Grafik viele Fans.
Gerade ein in jeder Hinsicht virtuelles Medium wie das der Spiele böte eigentlich die Möglichkeit, wirklich alles Denkbare zu zeigen. So betrachtet, erscheint die jahrelange Jagd nach der möglichst exakten Abbildung der Wirklichkeit fast wie ein technikgetriebener Sonderweg. Dieser, so könnte man sagen, wird nun von immer mehr Entwicklern endlich zu Ende gegangen - und vielleicht sind jetzt, wie auch in der Malerei vor 170 Jahren, Energien für künstlerisch inspiriertere Visionen frei. Wieso also nicht ein Spiel entwickeln, das sich an den psychedelischen Schwarzlichtkunstwerken aus der Goa- und Trance-Partykultur orientiert? Oder wie wäre es mit einem, das aussieht wie ein vergilbtes Choose-Your-Own-Adventure-Taschenbuch?
Dass diese aber niemals Selbstzweck sein sollen, ist für Designer Jesse McGibney klar: "Etwas nur um der Andersartigkeit willen in einem 'anderen' Stil zu machen, bringt auch nichts. Viel wichtiger, als ein visuell 'anderes' Spiel zu machen, ist es doch, ein gutes Spiel zu machen."
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Kommentare
Insgesamt kann ich dem nur
Insgesamt kann ich dem nur zustimmen. Wie sehr man mit bloßem Ausnutzen technischer Möglichkeiten in die falsche Richtung gelaufen ist, sieht man IMO am besten an den ersten Jahren der beschleunigten 3D-Grafik. Plötzlich wurde jedes Spiel auf Teufel komm raus mit 3D-Grafik produziert, während die Technik aber noch lange nicht bereit war, damit auch wirklich bemerkenswerte Ergebnisse zu produzieren. Gerade die Spiele aus der Zeit sind wahnsinnig schnell gealtert, während ihre 2D-Vorgänger (zumindest die hübscheren - siehe Style) oft jetzt noch gut aussehen. Baldurs Gate konnte unverändert neu released werden und sieht IMO weit besser aus als jedes RPG bis auf einige der letzten Jahre. Dabei hat es nicht einmal besonderen Style - wie im Artikel angesprochen - sondern ist einfach stimmig bis in den letzten Pixel.
Was Fotorealismus angeht, hätte ich noch etwas hinzuzufügen: Interessanterweise wird - bis auf wenige Ausnahmen - gar nicht versucht, wirklichen Fotorealismus zu erzeugen, sondern etwas, das in der Fotografie manchmal "Hyperrealismus" genannt wird: Konzentriert auf grösstmögliche Ausnutzung technischer Möglichkeiten, was am Ende wieder unrealistisch wird, aber keinen Style hat. Insbesondere Farben und Licht werden oft "realistischer als realistisch" gemacht. Manchmal funktioniert das auch, zum Beispiel bei Crysis (1), das oft wie ein Reisekatalog aussieht und auch genau das Gefühl von "da will ich hin!" erzeugt. Bei anderen Spielen hingegen tötet das jede Atmosphäre ab. Ein Positivbeispiel für _echten_ Fotorealismus ist für mich DayZ (bzw. Arma 2): Die Grafik ist nicht unbedingt hübsch, aber gerade mit den etwas verwaschenen Farben und der IMO extrem guten (wenn auch eben nicht malerischen) Beleuchtung aus der Weite tatsächlich fotorealistisch im Sinne von "Schnappschnuss irgendwo auf dem Land", was zusammen mit dem Thema / Gameplay eine ganz besondere Stimmung erzeugt, die so mit hochpolierten Urlaubskatalogansichten nie möglich wäre.
Mein erster Kommentar hier...
Mein erster Kommentar hier... aber ein Thema, das wirklich hochinteressant ist. In bezug zu den fotorealistischen Spielen stimme ich Neo VG zu, die meisten sind eher hyperrealistisch, aber hyperrealistisch im Sinne der us-amerikanischen Kunstrichtung der 60er und 70er. Gerade GTA V scheint mir (und da geht zum Glück der grafische Stil mit der Charakterzeichnung zusammen) eher von Malern wie Richard Este inspiriert. Kürzlich habe ich Half Life gespielt und im Cyberspace mich gefragt, ob und wie es visuell möglich wäre, den digitalen Ursprung von Computergrafiken sichtbar werden zu lassen, ohne in der ein oder anderen Form mimetisch zu bleiben. So aufregend die oben genannten Beispiele sind, so aufregend auch viele große Titel grafisch sind, schmiegen sich doch alle an Darstellungsweisen, die ihren Ursprung außerhalb des Computers haben (letztlich scheint mir das auch bei den Pixel-Stilen vorzuliegen). Bei Rogue ist so etwas vorhanden, ist aber noch sehr der Repräsentationsweise der Schrift ähnlich. Wie könnte das unter Ausnutzung aller heutigen grafischen Möglichkeiten aussehen? Ich bin sehr dankbar für Hinweise.
Hm, Spiele, die sich
Hm, Spiele, die sich mimetisch gar nicht in der einen oder anderen Weise am Analogen orientieren, gibt es im Sinne von solchen mit symbolisch-abstrakter Grafik einerseits (Roguelikes, Tetris u.Ä.) - vielleicht solltest du diesbezüglich einen Blick auf Gauge werfen - andererseits sind natürlich alle nicht-darstellenden, rein auf Text (Interacttive Fiction) oder nur auf Ton (zB Papa Sangre) basierenden Spiele in deinem Sinne nicht-mimetisch.
Es ist nicht ganz einfach, denn selbst leidlich grafisch "abstrakte" Spiel wie etwa flOw, Luxuria Superbia Osmos oder Eufloria beziehen sich ein- oder zweideutig auf reale Objekte - sie abstrahieren eben nur von der Realität, ohne völlig neu zu erfinden. Frage: Ist das überhaupt möglich? Wenn's jemand weiß, dann wahrscheinlich Michael Brough.
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