Technoscience: Wissenschaft als Weltmodell
Eine der großen Denklinien, nicht nur von „Old World Blues“, sondern auch der gesamten Fallout-Reihe, ist das Ideal der Menschunterworfenheit von Wissenschaft und Technologie - Technoscience. Und – natürlich - das Versagen dieses Ideals, das den Weg in die (Post-)Apokalypse bereitet. Dieses Motiv finden wir nicht nur in Fallout, sondern eigentlich in allen Spielen, in denen Erzählungen und Fiktionen von Wissenschaft, Science Fiction, eine Rolle spielen.
Die Fruchtbarkeit dieser Symbiose resultiert aus einer ganzen Reihe von inhaltlichen und strukturellen Parallelen, ja Verwandtschaften, die alle in einer Feststellung gipfeln: Wissenschaft und Games bieten Prozesse der Welterfahrung und des Weltverstehens, in anderen Worten, Kosmologien, an.
Sowohl Spiele wie auch Wissenschaft erzeugen und zeigen Modelle unserer Welt, die einerseits einen Interpretationsrahmen für ebendiese Welt, andererseits (auf ihre jeweils eigene Art) Handlungsoptionen innerhalb der angebotenen Rahmen bieten. Solche Sets von grundlegenden, im Grundsatz nicht kritisch hinterfragten Vorstellungen über die Wirklichkeit, die der wahrgenommenen Realität erst Sinn verleihen, werden als Kosmologien bezeichnet.
Wissenschaft schafft auf der einen Seite die Möglichkeitsbedingungen unseres Handelns, indem sie uns mit den aus ihr entspringenden Technologien Werkzeuge in die Hand legt, mit welchen wir (natürlich innerhalb der Grenzen der jeweiligen Technologie) unsere Umwelt und uns selbst nach unserem Willen formen können. Wissenschaft ermöglicht demnach Orientierung, Technologie wiederum bietet Empowerment. Dieses Paar – im Begriff der Technoscience verbunden – bezieht sich also sowohl auf die Theorie als auch die Praxis.
Grundsätzlich lässt sich diese Verbindung von Wissen und dessen praktischer Umsetzung auch für Spiele behaupten: Auch hier werden Spielwelten erschaffen, in welchen wir über unsere begrenzten Möglichkeiten als körperliche Mängelwesen hinauswachsen können und in denen eigentlich unmögliche Räume mit eigentlich unmöglichen Herausforderungen warten.
Die sowohl von der Wissenschaft als auch von Spielen erschaffenen Kosmologien werden nicht hinterfragt. Zwar mag es im Fall der Technoscience in Details Kritik an einzelnen Forschungsergebnissen oder Forschungssträngen geben (etwa an den sogenannten SECT-Technologien, „socially and ethically contentious technologies“). Der grundsätzliche Bedarf einer Gesellschaft an der Wissenschaft als Motor des Fortschritts wird jedoch zumindest in (post-)industriellen Gesellschaften kaum in Zweifel gezogen. Im Falle der Spiele werden im Allgemeinen auch die Spielwelten nicht hinterfragt, im Gegenteil: Der Spieler akzeptiert sogar Unzulänglichkeiten und Widersprüche, wenn diese einem positiven Welt-Erleben dienlich sind.
Deutlich wird diese Parallele auch, wenn man sich vor Augen hält, dass sowohl Spiel wie auch Technoscience erstens auf einer praktischen und damit strukturellen Ebene des sozialen Austauschs angesiedelt sind: Spiele werden, nun ja, gespielt, Wissenschaft besitzt ebenfalls eingeübte und festgelegte interaktive Formen ihrer Ausübung. Zweitens stellen beide eine Form der Wissensvermittlung dar, in welcher Wissen verschiedenster Couleur repräsentiert, interpretiert, konsumiert und integriert wird.
Erzählerisch spielt die Wissenschaft in Games eine besonders effektive Rolle darin, die Spielwelt zu begründen und ihr eine organisch gewachsene, archäologische Struktur zu geben. Entsprechend helfen Wissenschaft und Technologie im Spiel, Unmögliches glaubwürdig erscheinen zu lassen, und, wie der deutsche Filmwissenschaftler Simon Spiegel es ausdrückt, das „Wunderbare zu naturalisieren“. Es geht darum, einen wahrgenommen Realismus zu schaffen, der das Gezeigte im Erfahrungshorizont des Spielers verankert. Auf diese Weise können medial vermittelte Sachverhalte zwar sachlich fiktional, aber von der Wahrnehmung her realistisch, in anderen Worten, plausibel sein.
Diese Verankerung reicht vom plumpen MacGuffin (ein durch ein Experiment geöffnetes Dimensionstor, durch welches die Forschungsstation von Monstern überrollt wird, really?!) bis hin zu komplex gestalteten Nachbildungen ganzer Kulturen. In The Division (2016) sorgen nicht nur eine ganze Reihe an auffindbaren Mailbox-Benachrichtigungen, zuhauf verlassene Krankenaufnahmezentren, Lazarette und Krankenhäuser und überall sichtbare Plakate mit Hinweisen zur Krankheitsprävention dafür, dass man als Spieler den Verlauf einer Pockenepidemie apokalyptischen Ausmaßes nachvollziehen kann, sondern man erhält obendrein wissenschaftliches Backgroundwissen in Form kleiner Filme, verstreuter Berichte, und so weiter.
Geschickt können so über den Aufbau einer Archäologie – also der Vorspiegelung einer historisch/organisch gewachsenen Spielwelt – nicht nur Semantiken (wie wird Wissen ästhetisch und erzählerisch vermittelt?), sondern auch Denkmodelle (welches Wissen wird vermittelt und an welche realen Aspekte schließt dieses an?) an die Frau/ den Mann gebracht werden.
Nicht nur auf der Ebene des Erzählerischen harmonieren Wissenschaft und Spiel sehr gut, sondern auch auf der spielmechanischen. Dies hat mehrere Ursachen, die man besonders gut am Beispiel der Biowissenschaft und der Biotechnologie veranschaulichen kann.
Auf der Ebene der Spieler-Spiel-Interaktion bestimmt Technoscience gerade im Shooter, aber auch im Rollenspiel die Fähigkeiten des zu spielenden Charakters – sofern es keine andere Welterklärungsinstanz, etwa aus dem Bereich des „Übersinnlichen“ gibt. Was wären Shooter heutzutage ohne Exo-Skelette und andere Formen biotechnologischen Enhancements, mit denen sie höher, schneller, weiter…? Gerade die Crysis-Reihe belegt eindrucksvoll, wie der Nanosuit die spielerische Handlungsfähigkeit festlegt und den Spieler an der Nase der Funktionalität durch die Spielarena führt und festlegt, was er darf und kann. Noch deutlicher wird der funktionale Zwang der von der Technoscience ausgeht, in der Bioshock-Reihe; auch hier sind es Bio-Enhancements in Form von Plasmiden (oder in Bioshock: Infinite sogenannte „Kräfte“), die erst ein Weiterkommen an verschiedenen Punkten im Spiel erlauben.
Es handelt sich um einen relativ einfachen Kniff, um die die Komplexität eines Spieles langsam zu steigern und dies im Plot der Geschichte glaubhaft zu verankern: Man braucht Instrument X um fortan Handlung Y durchführen zu können. Die Aufrüstung mit Biotech-Gadgets erlaubt (und erzwingt) zugleich einen Kreislauf der zielgerichteten biopolitischen Verbesserung, der entweder auf der Selbstverbesserung oder der Verbesserung der kreativen Umgestaltung seiner Umwelt beruht.
Letzteres findet sich insbesondere in Aufbau- und Strategiespielen. Der Viren-Simulator Plague Inc. (2013) lässt uns mit den Mitteln wissenschaftlicher Sprache und Visualisierung Krankheiten erschaffen, mit denen wir wiederum den Lauf der Welt extrem zu Ungunsten der Menschheit verändern. Exakte, aus der medizinischen Terminologie entnommene Begriffe werden bestimmten Symptomen zugeordnet, die wiederum im Laufe des Spiels weiterentwickelt, kombiniert und mit tödlicher Präzision perfektioniert werden. So erweitern sich beispielsweise die Symptome vom einfachen Husten über die Immunsuppression bis hin zur Nekrose. Gepaart sind diese Krankheitszeichen mit Symbolen, die einerseits ikonografisch den Ort, anderseits die Art des Symptoms beschreiben. Auch elektronenmikroskopische Aufnahmen der Krankheitserreger und andere direkt aus der Medizin übernommene Bildtraditionen kommen zum Einsatz.
Die Spielmechanik wird hier einerseits durch biomedizinisches Wissen in Form von Faktenwissen über die Tödlichkeit, Ansteckungsarten und Krankheitsverläufe verschiedenster Krankheitserreger, andererseits durch epidemiologische Krankheitsmodelle (insbesondere einer Abwandlung des bereits 1927 entwickelten statistischen SIR-Modells (Susceptible-Infected-Recovered-Modell)) bestimmt. Indem man an den medizinisch festgelegten Variablen dreht und werkelt, unterläuft man zentrale Mechanismen der öffentlichen Gesundheitserhaltung, die dem Spiel auf der spielmechanischen Ebene ein Gegengewicht verleihen und die maßgeblich das Tempo und die Krankheits- und Umweltcharakteristika des Spiels mitbestimmen. Während diese sinistre Schaltzentrale des Todes in unheilverkündendem Rot gehalten ist, wird die Informationsseite zum Gegner, der Mensch und seine Medizin, im klassisch-klinischen Hellblau dargestellt.
Auch hier vermittelt der Gebrauch althergebrachter und neuerer medizinischer Bildtraditionen und einer medizinisch gefärbten Sprache Plausibilität und wahrgenommenen Realismus. Dieser hat einen solchen Grad erreicht, dass der Entwickler des Spiels, James Vaughan, sogar im Center for Disease Control and Prevention (CDC) einen Vortrag zu Plague Inc. halten durfte.
Schließlich werden neben der reinen Erzählung und neben der Spielmechanik wissenschaftliche Aspekte auf einer Ebene eingebunden, die beide Aspekte umfasst, nämlich auf dem Gebiet der Ethik. Insbesondere die Life Sciences sind nicht nur Wissenschaften, sondern sie sind gleichzeitig - mehr als andere Wissenschaften - dem Menschen und dem Erhalt von dessen körperlicher und umweltlicher Integrität moralisch verpflichtet. Ihre Funktion als heilende Wissenschaft ist gleichzeitig mit einem starken Eindringen der Medizin in unsere kleinen Existenzen mit einer unterschwelligen Distanz verbunden, die unter anderem auch auf einer oft kryptischen Sprache und einer gewissen sozialen Distanz (oft getriggert durch eine elitäre Selbstwahrnehmung der Akteure der Wissenschaft) aufbaut. Allein die Angst vor dem Zahnarzt oder einer Spritze sollte schon ein Gefühl sein, mit dem sich viele identifizieren können.
In Spielen drücken sich ethische und politische Konflikte einerseits in der Erzählung, andererseits in der Spielmechanik aus. Von der Sterbehilfe am armen Baum-Mensch-Mutanten Harold/Bob in Fallout 3 (2009) bis hin zum Aufbau eines gewinnorientierten Pharmakonzerns in Big Pharma (2015) können so geschickt schwelende Konflikte aufgegriffen und zu spannenden kosmologischen Rahmen verarbeitet werden.
Je nach Genre, je nach Aufgabe der Wissenschaft im Spiel, ist dieser Rahmen eher positiver (etwa in der Civilization-Reihe) oder negativer Natur (in 90 % aller Shooter). Der Unterschied ist, dass der Spieler im ersten Fall selbst die Ethik seiner Welt bestimmt, während er sich im zweiten Fall durch eine bereits vordefinierte ethische Kultur bewegen muss. Im ersten Fall geht es darum, dass er für seine Welt eine effektive, gerechte Verteilung von Wissenschaft anstrebt, die seiner ganzen Gesellschaft dient; im zweiten Fall geht es um ihn als Teil einer Gesellschaft und wie er sich in ihr positioniert.
Spiele sind wie jedes Medium ein Seismograph nicht nur dieses Selbstverständnisses, sondern auch der Probleme, die Gesellschaft und Kultur darin entdecken. Ein kritischer Blick auf Technoscience im Spiel sensibilisiert nicht nur für diese Problemzonen der Wissenschaft, sondern sie kann dem Spiel – wenn es plausibel erscheint – die entscheidende kosmologische Würze geben.
Bildausschnitte: Matsuura Tomoya auf Flickr