Über Schulmädchen, Anwälte und Krankenschwestern
Japan ist eine eigene Welt, nicht nur, aber auch, was Games anlangt. Helfried Haider über ein Nippon-Phänomen, das sich im Westen noch nicht ganz etablieren konnte: Visual Novels.
Aufwachen!", ist das Erste, was ich höre. Nach dem zaghaften und widerwilligen Öffnen meiner Augen sehe ich ein Mädchen. Sie hat große Kulleraugen, ist erzürnt über meinen Unmut zu erwachen und hat manchmal einen gewaltigen Vorbau. Sie ist meist eine alte Bekannte, an der ich (noch) kein romantisches Interesse habe; manchmal ist es aber auch meine Schwester, für die ich unzüchtige Gefühle hege. Es ist Zeit für die Schule - und Zeit für Entscheidungen.
Die obige Szene beschreibt grob die erste Minute der meisten japanischen Adventures, auch bekannt unter dem Namen "Visual Novels". Im Gegensatz zu ihren amerikanischen oder europäischen Counterparts ist die Ansicht jene aus der Egoperspektive, man hat kein Inventar und es gibt keine Rätsel. Vielmehr sind Viual Novels wie Mangas, nur ausnahmsweise nicht von rechts nach links sondern von Klick zu Klick zu lesen. Diese Visual Novels (auf Deutsch am besten beschrieben mit "Buch-Adventures") haben dem Manga-Boom der letzten zwei Jahrzehnte außerhalb Japans allerdings widerstanden und bleiben meist auf den japanischen Markt beschränkt. Während in Japan 75 % aller neu erscheinenden Spiele diesem Genre angehören (!), gibt es nur eine Handvoll, die ihren Weg zum Übersetzer geschafft haben und auch bei uns erhältlich sind.
Getrieben wird eine Visual Novel durch Entscheidungsmöglichkeiten - diese bestimmen, welche besonderen Cutscenes man zu sehen bekommt und letztendlich auch, welches Ende die Geschichte nehmen wird. Oft ist nicht ersichtlich, warum manche der Wahlmöglichkeiten einen so großen Einfluss auf den Verlauf der Geschichte haben, nur wiederholtes Spielen eröffnet einem neue Szenen durch die Wahl anderer Entscheidungen. Da diese Spiele stundenlanges Lesen beinhalten, gibt es die Möglichkeit im Fast Forward zu den Wegkreuzungen zu springen. Guides helfen einem hierbei, man bekommt einen guten Eindruck über den Entscheidungsbaum, der am ehesten an die auch bei uns bekannten „Choose Your Own Adventure“-Spielbücher erinnert, die durch die von Ian Livingstone und Steve Jackson in den 80er-Jahren veröffentlichten Werke hohen Bekanntheitsgrad erlangten.
Besonders beliebt in Japan sind Spiele mit erotisch-romantischem Hintergrund - diese Unterart der Visual Novels wird auch als Bishōjo (dt. „Hübsche-Mädchen-Spiel“) bezeichnet. Meist kann man verschiedenste Mädchen einer Highschool bezirzen und wird für seine Wahl mit je nach Altersfreigabe unterschiedlich freizügigen Bildern belohnt. Gerade da Mangas mehr sexuelle Inhalte beinhalten als westlichen Counterparts, sowohl im Spiel- als auch im Comicbereich, finden derartige Spiele noch seltener ihren Weg zum Übersetzer (und, dank Apples bekannt prüder Zensur, schon gar nicht auf iOS-Geräte).
Es wäre aber nicht Japan, wenn es nicht auch wieder ganz, ganz anderes neben all den virtuellen Lolitas geben würde: In Katawa Shouju, einer kostenlosen, ebenfalls übersetzten Visual Novel, befasst man sich - amn staune - ganz konträr und ernsthaft mit dem Thema körperliche Behinderung.
Abgesehen von solchen Ausreißern sind viele, sogar hochwertige Visual Novels eindeutig im Bereich Hentai (Manga mit pornografischem Inhalt) angesiedelt, in denen auch Tabuthemen wie Inzest oder gar Vergewaltigung thematisiert werden. Die Grenze des guten Geschmacks für westliche Verhältnisse ist schnell überschritten; auch wenn die Übersetzer beteuern mögen, dass alle Protagonisten des Spiels über 18 sind, hat mancher Hemmungen, niedlich aussehende virtuelle Schulmädchen zu vernaschen. Es ist anzuraten, sich gut zu vorinformieren wenn man eine Visual Novel ausprobieren will, um nicht Szenen präsentiert zu bekommen, die man gar nicht sehen wollte. In der Datenbank der Visual Novel Database sind viele Informationen zu Visual Novels zu finden, die praktischerweise vor allem mit Stichworten und Altersfreigaben gekennzeichnet sind.
Visual Novels sind trotz ihres Erfolgs in Japan im Westen nach wie vor eher ein Nischenthema - nur von Indie-Games-Seite gibt es Annäherungen, die über bloße Rerelases japanischer Erfolgstitel hinausgehen. Christine Loves 2010 veröffentlichtes Spiel Digital - A Love Story, das fünf Minuten in der Zukunft von 1988 spielt, und vor allem ihr aktuelles Spiel Analog – A Hate Story beziehen sich sowohl in Spielmechanik als auch Grafik (Analog) auf das japanische Adventure-Genre. In beiden Titeln wird man durch viel Text und strategische Entscheidungen immer tiefer in die facettenreiche Hintergrundgeschichte involviert.
Für Personen, die sich stattdessen dem Original-Genre selbst vorsichtig nähern wollen, führt am Klassiker Phoenix Wright - Ace Attorney von Capcom kein Weg vorbei: Während das Spiel eindeutig in den Bereich der Visual Novels zu zählen ist, vereint es japanische mit europäischen Adventure-Mechaniken. Im Gegensatz zu den meisten Novels trifft man weniger oft Entscheidungen, sondern muss Detektivarbeit leisten und vor Gericht die richtigen Aussagen hinterfragen und Beweise präsentieren. Das Spiel überzeugt mit einer äußert unterhaltsamen und packenden, hauptsächlich durch Dialoge erzählte Geschichte, die es durchwegs schafft, eine persönliche Note aufrecht zu halten. Ursprünglich erschien das Spiel für den GBA, hat aber Konvertierungen sowohl zum Nintendo DS als auch zum iOS erhalten. Man arbeitet auch daran, die Folgespiele der Serie zu konvertieren.
Wenn man sich dem Genre einmal genähert hat, kann man sich an Spielen wie Animamundi, Fate / Stay Night oder Kara No Shoujo versuchen - aber Obacht: Letzteres legt zwar einen großen Wert auf Story, aber je nach Entscheidung kann es schon zu Szenen eindeutig sexueller Natur kommen.
NSFW, obviously, und auch Sexismus-empfindliche SpielerInnen sollten sich beim Spielen stets der kulturellen Unterschiede zwischen Japan und dem Rest des Planeten bewusst sein. Wir reden immerhin von einem Volk, bei dem man gebrauchte Mädchenslips im Automaten kaufen kann und bei dem sogar auf Toiletten noch gespielt wird ...
Kommentare
Krass wie Spiele die in Japan
Krass wie Spiele die in Japan soviel Marktanteil haben einfach an einem in Europa vorübergehen können...
Wieder mal ein super Artikel!
(PS: Der Bishojo-Link führt ins Leere)
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[...] Über Schulmädchen, Anwälte und Krankenschwestern games 25.07.2012, von Superbot in Super.licio.us Flow aus Spielen: "Schwester, ich entferne nun die Narration!" games video GTA IV – Portal 2 Co-Op Bots games video mod portal gta Mortal Kombat: Jax’s New Arms games video... « Indie Fresse #010 — DayZ & Sales [...]
Trotz des vermeintlich
Trotz des vermeintlich diskriminierenden Titels kann ich als Mensch mit Behinderung "Katawa Shoujo" nur ausdrücklich empfehlen. Das ist wirklich ein sehr schönes Spiel geworden ist. Und das gibt es auch für Mac. "Katawaja Shoujo" ist allerdings eine westliche Produktion. Afaik gibt es davon noch keine japanische Übersetzung -
Visual Novels gibt es in technisch mitunter wesentlich aufwendigerer Form auch auf etablierten Konsolen in Japan. Dann allerdings naturgemäß wohl ohne Nacktheit. Wie der Famitsu-Perfect-40-Titel "428" etwa beweist. Ja, Visual Novels beschränken sich nicht nur auf den Erotik-Bereich sondern gibt es auch im Horror- und anderen Genres wie der Artikel im Ansatz schon zeigt. Wahrscheinlich ist neben "Phoenix Wright" die im Westen bei Nintendo noch veröffentlichte "Trauma Center"-Franchise ebenfalls zu nennen.
Schließlich orientieren sich die "Dead or Alive Xtreme/Paradise"-Titel auch noch an genau diesem Genre.
Eine kommerzielle Dating-Sim nach japanischem Vorbild gibt es im Westen übrigens auch: "Sprung", ein Nintendo-DS-Starttitel in Teilen (Nord-)Europas, der von einer New Yorker Autorin konzipiert wurde.
Es gibt daneben überhaupt einige Spiele die zumindest annähernd AAA in Asien sind, es aber kaum in den Westen geschafft haben: so hat Sony seine großangelegte PS3-Safari "Afrika" in Japan, "Hakuna Matata" in Hong Kong, ebenfalls nicht hier veröffentlicht.
Ich finde es interessant das
Ich finde es interessant das diese Spiele in Japan scheinbar von der Gesellschaft akzeptiert werden. Hier in Europa eigentlich undenkbar. Spannend wie sich Kulturen unterscheiden können. Ich selber habe schon mal in den einen oder anderen Manga reingeschaut und gedacht: "Ok, wer das mag ..." .
Ein schöner Artikel. Nur der
Ein schöner Artikel. Nur der letzte Satz! Dass da wieder die ewige Exotisierung Japans kommen musste, noch dazu mit dem alten und längst überholten Höschenautomaten-Klischee, wird dem sonst sachlichen Ton des Artikels meines Erachtens nicht gerecht. Ist sicher "nicht ernst gemeint", aber Leute die sich ernsthaft mit Japan beschäftigen müssen bei diesen Beispielen und Sätzen der Marke "aber Japaner machen ja auch das und das" immer mit den Augen rollen.
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