Unkreative Freiheit
Die Bergnymphe Echo wird von den Göttern dazu verdammt, immer nur genau das zu wiederholen, was zuletzt in ihrer Nähe gesagt wurde. Damit ist sie nicht mehr in der Lage, eine individuelle Stimme zu finden und ihre Kreativität zu entfalten. Echo ist nicht mehr frei. Was im Mythos die Strafe der Götter ist, scheinen in der Spielkultur die Dogmen des Marktes zu sein. Womit andere Entwickler schon vorher Erfolg hatten, das wird wiederholt. Was inhaltlich etabliert ist, das reproduziert man. Wie ein Echo in einem kreativen Hohlraum.
Das allein wäre schon kritikwürdig genug, aber meist hallen noch ganz andere Altlasten aus dem Abgrund der Geschichte zurück – etwa sexistische Stereotype oder weißgewaschene Spielwelten. Natürlich macht das Rollenspiel The Witcher 3 vieles richtig, aber dennoch klingt in seinen Städten und Dörfern eine lange Tradition des Fantasy-Genres an, die nicht-weiße Menschen ausblendet oder von nicht-menschlichen Kreaturen repräsentieren lässt. Und auch der Multiplayer-Shooter Overwatch muss sich – trotz vorbildlicher Geschlechterverteilung – gefallen lassen, für Charaktere kritisiert zu werden, die nur ein einziges weibliches Körperbild transportieren: groß und schlank.
Obwohl diese Kritik alles andere als grundsätzlich ist, reagieren viele Spielende darauf nicht etwa mit der Wahrnehmung des Echos, sondern mit der Ruhigstellung kritischer Positionen. Die Beschwörung der kreativen Freiheit dient dabei als beliebtestes Totschlagargument. Aber genau hier liegt der große, argumentative Widerspruch: Wie einen Gegenstand aufgrund seiner angeblichen Schaffenskraft von Widerspruch ausnehmen, wenn der Kern der Kritik doch gerade der Hinweis auf das unreflektierte Wiederholen längst etablierter Muster ist? The Witcher 3 und Overwatch werden ja nicht kritisiert, weil sie etwas Unerhörtes gewagt haben, sondern weil sie etwas nachplappern, das auch schon vorher problematisch war. Wenn überhaupt, müsste man sie auf der Grundlage unkreativer Freiheit in Schutz nehmen.
Der Entwickler Blizzard Entertainment hat die Kritik am weiblichen Cast von Overwatch ernst genommen und mit Zarya eine relativ muskulöse Kriegerin hinzugefügt. Ein Stück Vielfalt, wo vorher nur Modelmaße waren. Entgegen der verbreiteten Befürchtung, dass die kritische Auseinandersetzung mit den politischen und diskriminierenden Aspekten von Computerspielen zu sogenannter „Gleichmacherei“ und kreativer Stagnation führt, erzeugt der Hinweis auf die Echos der Vergangenheit also neue Freiheiten. Vielmehr herrschten vorher Austauschbarkeit und Anpassung an eine vermeintliche Norm. Wie die Erweiterung von Gestaltungsmöglichkeiten überhaupt als Bedrohung wahrgenommen werden kann, lässt sich nur mit einem weiteren Mythos erklären.
Der Jüngling Narziss verliebt sich in sein Spiegelbild im Wasser, ohne zu erkennen, dass er sich eigentlich selbst anblickt. Obwohl ihm seine Reflexion absolut gleicht, hält er sie für eine andere Person. In weiten Teilen der Spielkultur scheint es nicht anders zu sein. Das Verhältnis des harten Kerns der Gamer zum Gegenstand Computerspiel ist von einem ähnlichen Narzissmus geprägt. Obwohl die Inhalte des Mainstreams seit Jahrzehnten in der Regel die Interessen und Bedürfnisse einer relativ homogenen Gruppe von Spielenden – weiß, männlich, heterosexuell – widerspiegeln, sehen Gamer nur einen völlig neutralen Gegenstand vor sich. Problematische Frauenrollen, weiße Spielwelten, dreitagebärtige Helden und auf Machtfantasien zugeschnittene Spielmechaniken – all das wird nicht als Reflexion der eigenen Ansprüche verstanden, sondern als selbstverständlicher Normalzustand. Erst Kritik schlägt Wellen im Wasser und lässt das Spiegelbild offensichtlich werden.
Das Zerbrechen der Illusion, dass die sogenannte kreative Freiheit oft nur eine Anbiederung an mehr oder weniger bewusste Erwartungshaltungen und Traditionen ist, wird als narzisstische Kränkung erfahren. Beim niederländischen Kulturanthropologen Johan Huizinga heißt derjenige, der die Sprödigkeit der Spielwelt offenlegt –also den Zauberkreis des Spiels zerbricht – Spielverderber. Und Huizingas Urteil ist eindeutig: Er muss von den Spielenden vernichtet werden. Betrachtet man den Umgang mit prominenten KritikerInnen von Computerspielen – allen voran die Videobloggerin Anita Sarkeesian –, scheint diese Reaktion nicht allzu weit hergeholt. Lieber wird die Wiederholung der Vergangenheit im Namen der Kreativität verteidigt, als sich mit der Kritik an den eigenen Ansprüchen auseinanderzusetzen und tatsächliche kreative Freiheit zu riskieren.
Am Ende des Mythos verliebt sich Echo in Narziss. Doch sie kann sich ihm nur mitteilen, indem sie seine letzten Worte wiederholt. So kommt kein sinnvolles Gespräch zustande, die Annäherung scheitert und die Bergnymphe zieht sich zum Sterben in eine Höhle zurück. Nur ihre Stimme bleibt zurück, die man bis heute in Schluchten, Tunneln oder Tälern hören kann. Narziss vergisst derweil die Außenwelt und widmet sich ganz seinem geliebten Spiegelbild. Doch schließlich kommt er seiner Reflexion im Wasser so nahe, dass er darin ertrinkt. Es mag zynisch klingen, aber der Spielkultur droht ein ganz ähnliches Schicksal, wenn sie sich nicht aus der starken Selbstbezogenheit befreien kann.
Echo – das Nachsprechen der Vergangenheit – und Narziss – die Verwechslung des Bekannten mit dem Anderen – sind nicht mehr in der Lage, Neues zu produzieren oder wahrzunehmen. Sie sind gefangen. Unter Spielenden zeichnet sich dieser Prozess am deutlichsten im Umgang mit tatsächlichen Grenzverletzungen ab. Das – im weitesten Sinne – Adventure Her Story macht eine Frau zum Zentrum der Geschichte und enttäuscht dabei gängige Erwartungen an eine lineare und abgeschlossene Spielhandlung. Glaubt man vielen lauten Stimmen in Foren und User-Reviews, handelt es sich genau deswegen nicht mehr um ein Computerspiel. Das sind ganz ähnliche Gedankengänge, die auch schon Dear Esther, Gone Home oder Mountain ihr Dasein als Spiel absprachen. Es scheint fast so, als ob digitale Spiele, die ihre kreative Freiheit nutzen wollen – Grenzen überschreiten und Tabus brechen –, genau dann aus allen Spieldefinitionen herausfallen.
Die Frage danach, was ein „richtiges“ Computerspiel ausmacht und was nicht, wird so auch zur Legitimierungsstrategie für die Wiederholung unhinterfragter Standards. Denn wenn Game nur ist, was strenge Normen der Vergangenheit erfüllt, ist Kreativität quasi ausgeschlossen. Her Story und Co zerstören diesen bequemen Kurzschluss – sind also Spielverderber im besten Sinne – und müssen über rigide Definitionen ausgegrenzt werden. Was zu kreativ ist, bedroht die unbefleckte Konsumhaltung und kann darum schlicht kein Spiel sein. Die konkrete Möglichkeit einer Alternative ist nicht vereinbar mit einem Selbstbild, das selbst die hundertste Iteration eines Spielkonzepts oder eben eines diskriminierenden Klischees noch als Speerspitze der kreativen Freiheit feiert. Das ist jedoch keine „richtige“ Freiheit, sondern eher bewusste, selbstverschuldete Unmündigkeit.
„Wagt es, die kreativen Potenziale des Computerspiels zu nutzen!“, möchte man den Legitimierern des Stillstands zurufen. Und tatsächlich scheint sich langsam ein Prozess der Aufklärung in der Spielkultur durchzusetzen. Frauenmannschaften in der FIFA-Serie, ein weiblicher Assassine bei Dishonored 2, zufällige Avatar-Hautfarben in Rust, Spiel ohne Mechanik in Mountain – immer häufiger wird die Freiheit von normativen Strukturen gewagt. Und die Einsicht wächst, dass damit nicht etwa eine Diktatur der vermeintlichen politischen Korrektheit verbunden ist, sondern schlicht Aufmerksamkeit für das eigene Spielen und Schaffen.
Auch in Zukunft wird es Computerspiele wie Hatred geben. Auch morgen noch kann man Games unreflektiert konsumieren. Nur wird Kritik am Spiel dann schlimmstenfalls mit einem Schulterzucken zur Kenntnis genommen und nicht mehr mit einem pauschalen Plädoyer für kreative Freiheit abgeblockt. Denn verteidigt werden kann Freiheit nur, wenn sie auch wahrgenommen wird.
Zum Autor: Christian Huberts ist ein mächtiger Kulturwissenschaftler. Auf seinem Blog und seiner Webseite gibt es mehr von ihm zu lesen.