Wie die Pokéwirklichkeit einen Jungen aus mir machte. (Gefälschte) Erinnerung in drei Editionen

Gastautor Christopher Lukman über eine Kindheit zwischen Real und Virtuell.

Ich hatte Phasen, da war ich wie verschwunden, entwischt in Pixelwelten und mit einer Taschenlampe unter meiner Decke. Meine Mutter kaufte mir zur Einschulung meinen ersten GameBoy. In meiner allerersten Schulstunde saßen alle Kinder mit der Lehrerin im Kreis, meine Mutter ging aus dem Raum und ich fing an zu flennen. Zu dem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass sich in meiner Schultüte das so sehr begehrte Gerät mit der roten Pokémon-Edition verbarg. Also flennte ich und flennte ich. Auf einmal in einem Kreis mit vielen anderen Kindern zu sitzen, hielt ich einfach nicht aus. An fremde Menschen war ich nicht gewöhnt und nicht vor ihnen wegrennen zu können, machte die Sache nicht besser. Ich weiß noch, dass die Lehrerin nach meinem Namen fragen wollte, ich aber so Schiss vor ihr hatte, dass ich Augen und Mund zusammenkniff, mir auf beiden Wangen Tränen runterrollten und ich mir sagte: „Jetzt nur nicht nachgeben… sobald sie weg ist, kannst du die Augen wieder öffnen.“

Ich machte die Augen wieder auf und saß in meinem kleinen, rechteckigen Kinderzimmer, auf meinem grünen, rechteckigen Bett mit dem grauen, rechteckigen GameBoy in der Hand. Nintendos erster Handheld konnte noch nicht viel, doch trotzdem war die mit labilen Synthie-Klängen angereicherte Welt auf dem froschgrünen Bildschirm von da an die ultimative Stimulation meines Miniaturgehirns. Pokémon fing an, mich von Kopf zu Fuß umzumodeln und blies mir dabei neuen Geist in meinen psychologischen Apparat, das Leben als Schuljunge fing mit Pokémon an.

Meine Mutter wusste damals noch nicht, welche Droge sie mir mit ihrem Geschenk verabreichte. In den Köpfen der Menschen kursiert diese wundersame Vorstellung, dass irgendwann mal ein Typ mit runden, geschwärzten Gläsern vor einem steht, und einen wählen lässt, zwischen roter und blauer Pille. Bekommt man in den wichtigen Momenten seines Lebens aber wirklich die Wahl? Die Mehrheit der Pokémon-Spieler konnte jedenfalls nicht wählen. Mir wurde Rot oder Blau einfach so injiziert, völlig ohne meine Zustimmung, denn klein, unmündig und ein ziemlicher Schisser war ich. Der Stich aber war tief und verstörend und je mehr von diesem Zeug in meinen Körper drang, desto weiter zogen sich meine Pupillen zusammen, dass jeder Lichteinfall in dieser merkwürdigen Grünschattierung geknetet wurde, den ich von meinem Pokémon-Spiel kannte.

I

Jean-Louis Baudry beschrieb 1975 das Kino-Dispositiv als eine strukturelle Nachahmung des menschlichen psychischen Apparats, dem die Macht verliehen wird, einen Realitätseindruck im Subjekt selbst zu simulieren. An einem festen Platz in einem dunklen Saal zur Regungslosigkeit gezwungen, läuft die dargebotene Wirklichkeit vor den Augen der Filmschauenden ab. In gleicher Weise wird auch der Traum auf die innere Leinwand des Schlafenden projiziert wird. Und wie der Säugling nach dem Stillen einschläft, zu träumen beginnt, um mit geschlossenen Augen sehen zu lernen, so erkennt auch der Kino-Zuschauer in dieser wundersamen räumlichen Anordnung und dem einzigartigen Gemisch von Tönen und Licht einen Eindruck von Wirklichkeit.

Jede Wirklichkeitssimulation benötigt ihren eigenen isolierten Raum, um ihre Autonomie zu behaupten.

Heute weiß ich, wieso ich am liebsten nachts im Dunkeln und unter der Decke mit einer Taschenlampe GameBoy gespielt habe. Jede Wirklichkeitssimulation benötigt ihren eigenen isolierten Raum, um ihre Autonomie zu behaupten. Diese dunkle Aushöhlung war mein Rückzugsort, der dem Dispositiv des Kinos nicht unähnlich war. Meine Augen waren direkt auf den Bildschirm des GameBoys gerichtet, im Liegen nahm ich bereits den schlafähnlichen Zustand ein und zwang mich selbst zur Bewegungslosigkeit, weil die Taschenlampe, zwischen Kopf und Kissen geklemmt, eine stabile Lichtquelle für mein Sichtfeld bieten musste. Der GameBoy verfügte damals noch über keine Hintergrundbeleuchtung, der angeleuchtete Bildschirm drohte also durch Bewegungen meines Körpers immer wieder seine Sichtbarkeit zu verlieren.

Neu war nun das konstante Gefühl der Befriedigung, immer am grauen Steuerkreuz und den zwei violetten Buttons drücken zu können. Da war es ganz egal, was in der Spielwelt überhaupt ausgelöst wurde, mein kitzliger, haptischer Reiz war nicht zu stillen, genau wie das Zahnfleischjucken meines unfertigen Gebisses. An den abgerundeten Ecken des Geräts versuchten sich meine weichen Zähne in das Plastik zu vertiefen, kleinere Abdrücke sind darauf bis heute noch erkennbar. Still wurde es dank des GameBoys in der gesamten Wohnung. Meine Mutter genoss die dadurch eingekehrte häusliche Ruhe, das Muttersöhnchen hatte seinen besten Spielkumpanen gefunden.

II

Meine Finger glitten oft in diese unbefriedigende Lücke am Rücken des Geräts hinein, nur um das Innere der kleinen Maschine soweit wie möglich abzutasten. Wie genau es funktionierte erschloss sich mir nicht, mit dem bloßen Auge waren in dieser Öffnung außer Schatten nichts anderes erkennbar. Die Poké-Wirklichkeit fängt ab dem Moment an, in dem die rote Edition eingesteckt, die Öffnung gefüllt und somit der graue Kasten wieder vollständig rechteckig wird. Jeder Körper braucht sein Modul, jeder Geist seinen Apparat. Am Anfang des Spiels spricht man mit Professor Eich und es erscheint eine Jungenfigur mit einer etwas schiefliegenden Kappe, heller Joggingweste, Jeans und Sneaker, in der man sich wiedererkennen soll. Dann gibt man sich selbst und seinem Rivalen einen Namen, bevor diese etwas größere Darstellung immer weiter auf die Größe eines winzigen Pixelsprites schrumpft. Dazu, der schön einladende Text: „Eine unglaubliche Reise in die Welt der POKÉMON erwartet Dich! Eine Welt voller Wunder, Abenteuer und Geheimnisse! Kurz gesagt, ein Traum wird wahr!“

Nicht zufällig hat man für die digitale Verkörperung seiner Selbst, den religiösen Begriff des Avatars gefunden.

Das stimmt, der Traum wurde wahr. Computerspiele sind so eine Art Klartraum, in dem man auf seinen Körper verzichtet bei vollstem Bewusstsein die Kontrolle einer eigenen virtuellen Repräsentation wiedergewinnt. Angewiesen ist man jedoch auf die doppelte Perspektive. Man streift man als kleines Männchen durch die Welt, doch betrachtet sich selbst aus Vogelperspektive, als wüsste man selbst mehr als sein Stellvertreter. Nicht zufällig hat man für die digitale Verkörperung seiner Selbst, den religiösen Begriff des Avatars gefunden. Im Hinduismus bezeichnet dieser Begriff die inkarnierte Gestalt des Göttlichen auf der Erde.

In der Logik des GameBoy-Dispositivs vollzieht der Anfang von Pokémon die Spiegelung des Spielers in der Spielfigur durch Namensgebung und frontaler Figurenansicht. Die Seele des Spielers muss einkehren in das System des Spiels. Es bestätigt und versiegelt diese Identifikation des Spielers mit seiner Figur in den Worten Professor Eichs, wie es ein Vater mit seinem heranwachsenden Kind machen würde: „Richtig! Dein Name ist xxx!“. Die folgende Verkleinerung der Spielfigur ist gleichsam die Verkleinerung des Spielers, seine Niederkunft in die heiß ersehnte Pokéwelt, die ihn als kleine Figur aneignet, ihn aber gleichzeitig noch als Allsehende Instanz inthronisiert. Jauchzet, frohlocket, wiedergeboren wurde ich kleiner Pixeljunge, und eine ganze Wunderwelt stand mir zur Eroberung frei.

III

Der erste Raum des Spiels war ein quadratisches Kinderzimmer, mit einem Super Nintendo und einem Röhrenfernseher in dessen Mitte. Wo hat man sonst eine solch perfide Metalepse als Selbstvermarktung gesehen? Um die kleinen Jungs bei der Stange zu halten, lässt man ihr erstes Spiel in ihrem eigenen Kinderzimmer anfangen und jubelt ihnen gleich dazu die aktuellste Heimkonsole der Firma unter. Selbstverständlich befand sich auch in meinem wirklichen Zimmer bald, wie durch Geisterhand bewirkt, ein Super Nintendo und dem dazugehörigen Röhrenfernseher, nur in einer etwas anderen räumlichen Anordnung. Verließ man als Spielfigur nun das Zimmer, gelangte man in das Wohnzimmer des Hauses. Da saß dann an der rechten Seite des kleinen Tisches die Mutter – meine Mutter – und schaute einfach so abwesend durch die Luft. So regungslos und ruhig wie sie dasaß, schien sie ein wenig nostalgisch über etwas nachzudenken, bei nicht-spielbaren Figuren kann man das in Computerspielen aber immer erst wissen, wenn man mit ihnen spricht. „Richtig,“ sagte sie, als hätte sie einen Beschluss gefasst, „Irgendwann gehen alle Jungen fort, um ein Abenteuer zu erleben!“

Die Poké-Welt war zu dem Zeitpunkt noch ein patriarchalisches Regime, in der ersten Edition konnte man noch keine weibliche Figur auswählen. Die Reise eines männlichen Avatars, der mit all seiner hegemonialen Gewalt, Pokémon in seinen Besitz bringt, sich von Arena zu Arena schlägt, um schließlich der beste aller Trainer zu werden – man braucht kein Marxist zu sein, um in der spielerischen Befriedigung des Sammel- und Steigerungstriebs die spätkapitalistische Logik des Wettbewerbs, des Konsumierens und Arbeitens zu sehen. Alle 150 Pokémon sollte ich doch schließlich fangen, um in meinem Pokéleben erfolgreich zu sein. Im konstanten Wettbewerb mit anderen Trainern erwirtschaftete ich mir eine Kollektion von diesen quietschenden Viechern und wurde mit Orden ausgezeichnet, welche die Sporttrophäen ersetzten, mit denen andere Kinder gerne prahlten.

Man kann Leute nur belächeln, die denken, Spielwelten seien komplett entkoppelt von der Wirklichkeit.

Man kann Leute nur belächeln, die denken, Spielwelten seien komplett entkoppelt von der Wirklichkeit. Ganze Generationen von Spielern werden ohne ihr Bewusstsein von ihnen heimgesucht, den heimlich reproduzierten Ideologien in Computerspielen. Wie Gespenster drangen sie in mein Kinderzimmer ein, nur hatten sie nicht vor, mich zu vergruseln. Sie machten sich in mir heimisch und sind es bis heute. Mittlerweile habe ich die tiefste Wertschätzung für mein pseudojapanisches Tech-Gender. Ideologie hin und her, schön war meine Kindheit und ich möchte sie nicht missen. Den GameBoy ziehe ich jedenfalls der Schule vor, ich würde mir selbst heute noch lieber durch Pokémon mein Geschlecht vorgeben lassen, als von meinen käsigen Mitschülern oder meiner biederen Schullehrerin mit ihren Gartenlatschen. Wenn ich meine Mutter danach frage, wieso sie mir meine Konsolen nie weggenommen hat, sagt sie immer: „Ich wollte nur, dass du dich zu Hause wohl fühlst“.

– Danke Mama, hat gut geholfen.

Christopher Lukman (Kuya) mag es digital, japanisch und mit so viel Pop wie möglich. In Münster studiert er daher den Masterstudiengang Kulturpoetik der Literatur und Medien und bloggt nebenbei mit gediegener Nüchternheit auf www.filmexe.com. Kontakt: lukmanch@hotmail.de

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