The Year Walk Letters, Teil 1
Alle iPad-Besitzer, die das sehr besondere Year Walk bislang nicht gespielt haben, werden hiermit ultimativ aufgefordert, das nachzuholen. Christof Zurschmitten und ich haben's getan und uns in einem buchstabenintensiven Briefwechsel mit dem einzigartigen Spiel beschäftigt. Ein Briefwechsel aus dem inneralpinen Assoziationsblaster in drei Teilen. Spoiler, obviously.
Lieber Rainer,
Wir müssen reden. Als ich, damals, in altvorder Zeit gewissermaßen, meinem Befremden Ausdruck verschaffte über die Entwurzelung fast aller Geschichten in diesem Medium, warst du freundlich genug, mir zu antworten. Und du bewiest -- wie so oft --, dass du weißt, wo ich nur ahne. Wenn ich dich im Folgenden also transalpin missbrauchen werde als bärtigen Weisen, der ratschlagend auf einem Berggipfel ennet der Grenze hockt, so ist das gewissermaßen deine Schuld, oder, um ein zweites Wort zu verwenden, das in dieser Konversation noch öfters fallen dürfte: Schicksal.
Was ich damals bedauerte, und worüber ich heute reden wollte, war der Unwillen oder die Unfähigkeit der Entwickler in diesem von uns beiden so oft liebevoll gescholtenen Medium, sich auf ihre eigenen kulturellen Ursprünge zu besinnen: Manchmal kann es einem vorkommen, als gäbe es kaum ein fantasieloseres Genre als die Fantasy im Computerspiel -- ich vermutete, dass es unendlich aufgewertet werden könnte durch den narrativen Reichtum, der gerade in jenen Sagenwelten geborgen ist, den europäische Entwickler entdecken könnten, ohne auch nur vor die Haustür treten zu müssen.
Manchmal kann es einem vorkommen, als gäbe es kaum ein fantasieloseres Genre als die Fantasy im Computerspiel.
Doch wo Menschen wie ich nur jammern, gibt es zum Glück auch solche, die schöpfen. Dass ich kaum ein Jahr warten musste, um meinen Traum von einem, wenn man so will, urwüchsigen, Spiel erfüllt zu sehen, kam dennoch als Überraschung; dass es mir ausgerechnet auf einem Gerät begegnen würde, dem ich solche Erfahrungen am wenigsten zugetraut hätte, umso mehr. (Dass das Spiel wenigstens aus dem von mir als besonders sagenhaft beschworenen Norden stammt, ist das Einzige, was ich kommen sah. Die Membran zwischen Gegenwart und Zukunft -- für mich Blinden bleibt sie undurchdringlich.)
Ich muss dich fragen, Rainer, hast du Year Walk gespielt? Hast du, wie ich, dein iPad im Schoß gehalten wie ein blut- und erdbeschmiertes Grimoire, das ein stummes Versprechen und eine wortlose Drohung zugleich auszusprechen schien? Hast du den Companion entdeckt, bevor oder nachdem du dich auf den Weg gemacht hast? Und vor allem: Wo warst du, als du den Marsch gemacht hast? Ich habe rein zufällig, aber ungeheuer passend, in der Osternacht damit angefangen, mit dem Blick auf eine Kirche, in einem dunkeln Zimmer, ohne Internetempfang, und einem schalldichten Kopfhörer auf den Ohren. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man Year Walk anders spielen kann. Vielleicht aber irre ich mich. Wie hast du das Spiel erfahren?
Dein Christof
PS Rituale, Beschwörungen, sie brauchen Regeln. Ich schlage nur eine vor: Lass uns die unsägliche Angst vor dem Verrat zum Kyrkogrimen jagen. Year Walk erlaubt keine Spoiler-Warnung: Man will nichts darüber wissen, oder alles. Über Year Walk zu sprechen heißt, seine Geheimnisse preiszugeben, weil es voll und ganz Geheimnis ist. Insofern: Keine falsche Zurückhaltung. Ich glaube ohnehin nicht, dass unsere Worte genügen werden, um das Spiel seines Mysteriums zu berauben.
Lieber Christof,
als bärtiger Weiser auf dem Berge betitelt zu werden, trifft auch angesichts meiner Gesichtsbehaarung nur so halb zu, aber auch als Großstadtbewohner hat man hierzulande halt sein alpines Erbe zu tragen. Und da wir schon dabei sind: Die schroffen Täler und menschenfeindlichen Einöden ebenjener Alpen sind ebenso Orte lebendiger Volksmythologien wie, scheint's, das dunkle Skandinavien.
Grundsätzlich muss ich dir erst mal voll und ganz in deinem Lamento zustimmen: Kaum ein Genre, das seinem Namen so wenig gerecht wird wie Fantasy. Auf jeden Lichtblick folgen Jahre der Einheitsfantasy mit generischen Spitzohrenelfen und schalen Zwergenwitzen (für die wird Peter Jackson hoffentlich von Laurins oder zumindest Tolkiens Geist heimgesucht). Dabei ist, wie du richtig schreibst, ein narrativer Reichtum gerade auf dem alten Kontinent direkt vor der Haustür zu finden, und ein gehörig düsterer noch dazu. Interessanterweise hat diese niedere Mythologie aber anscheinend nur in Skandinavien ihren Weg bis in die Populärkultur des 20. Jahrhunderts gefunden; die Menagerie von Ronja Räubertochter oder aus den verdammt gruseligen Mumins dürfte sich in den nordeuropäischen langen Winternächten eben besser gehalten haben als im gründlicher christianisierten Süden.
Year Walk ist überhaupt kein Puzzlespiel, kein Adventure, in dem man Rätsel löst, sondern als Ganzes ein Rätsel.
Year Walk ist so etwas wie ein Beweis dafür. Du fragst, wie ich Year Walk erfahren habe, und meine Antwort darauf lautet: nicht unter derart (fast mythisch!) perfekten Bedingungen wie du, aber dennoch mit Staunen und wachsendem Respekt vor den Machern. Und vor allem: mit größter Begeisterung für ein Rätsel als Gesamtpaket. Mir gefällt dein Begriff vom "urwüchsigen" Spiel, doch da beginnt meiner Meinung nach bereits das meisterhafte Verwirrspiel. Denn Year Walk ist nur oberflächlich simpel, genau so wie die "niedere" Mythologie nur oberflächlich betrachtet unterhalb der hohen Mythologie steht.
Year Walk, so möchte ich denn einmal behaupten, ist überhaupt kein Puzzlespiel, kein Adventure, in dem man Rätsel löst, sondern als Ganzes ein Rätsel, und noch dazu eines mit mehreren Lösungen, die zum Gutteil außerhalb seiner Spielmechaniken liegen. (Es ist außerdem wohl ebenso ein Quantenmärchen.). Wie siehst du das? Hat sich dir dieses "Gesamtpaket" natürlich erschlossen? Würdest du mir zustimmen, dass hier in Spuren jener Meta-Witz versucht wird, der Blair Witch Project und House of Leaves so bemerkenswert gemacht hat?
Denn alles, wirklich alles stimmt. Es ist eine so grandiose Chuzpe, den Companion lapidar als hübsche Gratis-App dazuzustellen, und ebenso schön ist der kaltblütige Verweis auf den erfundenen Anthropologen Theodor Almsten - niemand, schon gar nicht The Verge in seinem Review noch die Kollegen von Superlevel, hatten diesen genialen Mummenschanz in den ersten Tagen durchschaut. (Ich selbst war auch nur deshalb schneller skeptisch, weil ich, sozusagen als Kollege, den Wanderer zwischen Academia und Gameswelt sofort ausfindig machen und anschreiben wollte.)
Widersprich mir bitte, falls ich übertreibe, aber ich finde: Year Walk ist ein großes, ein wichtiges Experiment - wenn sich so etwas verkauft, sind wir mit der Akzeptanz wirklich anderer Spielkonzepte einen schönen Schritt weiter. Wie siehst du das?
Servus,
Rainer