The Year Walk Letters, Teil 3

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Wer Year Walk bislang noch nicht für sein iPad gekauft hat, ist eine rohe Person ohne Kultur und Herzensbildung. Mit Pickeln. Christof Zurschmitten und ich bewerfen uns auch im letzten Teil der Briefserie mit großen Worten zu bullshitfreiem Rätseldesign, genialen Enden und noch genialeren Enden, die es so nicht gab.

Lieber Rainer,

Um der Freundschaft willen gestehe ich: Auch mir ist die verkannte literarische Gattung des Walkthroughs nicht fremd; in Zeiten der Informationsknappheit über Computerspiele wurde auch ich zum Ausleser der wenigen damals bei uns erhältlichen Magazine, inklusive meinem persönlichen Favoriten, der Video Games, mit ihren jeweils schwarzweiss vom Rest des Layouts abgehobenen Cheaterseiten. (Darauf gekommen, selbst an einem zu schreiben, wäre ich allerdings nie – was ist dieses Hillsfar, von dem du sprichst? Noch ein Mysterium.) Allerdings muss ich zugeben, dass mein Herz ohnehin eher dem Strategy Guide gehörte, jenem Cousin also, der einen nicht an der Hand nimmt, um einem haarklein den gesamten Weg zu zeigen, sondern einen eher Laufen lernt. Diese Form ist leider nicht mit allen Genres kompatibel (obwohl ich neulich gelernt habe, dass Infocom selig ein abgestuftes, mit Zaubertinte in den Handbüchern verstecktes System von Hinweisen hatte, das Ahnungen geben konnte, ohne Lösungen zu verraten – wie liebenswert).

Doch vielleicht liegt gerade hier eine Chance: In einer der nächsten Ausgabe der Gamestar wird, schamlose Eigenwerbung, eine Reportage von mir zum Thema „Prozedurale Generierung“ zu lesen sein. Alle von mir interviewten Entwickler zeigten sich zuversichtlich, dass in Zukunft mittels Zufallsfaktor erschaffene Inhalte eine tragende Rolle auch in Genres spielen wird, denen sie bislang fremd war. Stell dir vor, dies würde auch für das Genre des Adventures, Puzzle- oder objektorientierte Spiel gelten – könnte das Geheimnis zurückgeholt werden durch die Variation, so dass selbst der grösste Experte einem nur die basalen Regeln zeigen könnte, und mit dem Rest wäre man allein? Ich kenne nur ein Spiel, das einen Weg in diese Richtung zu weisen scheint, SpaceChem, dem es als einem der einzigen mir bekannten Puzzlespiele gelingt, einen Spielraum möglicher Lösungen für vorgegebene Probleme zu eröffnen.

Du stellst aber eine berechtigte Frage, wenn du hinterfragst, ob die Rätsel von Year Walk tatsächlich so „sinnvoll“ sind. Wie du schreibst, sind sie dies vermutlich nur in einem irrationalen Sinn. Doch sie sind zweifelsohne – lass mich das eingeklammerte Ausrufezeichen in deinem Text aus seinem Gefängnis befreien – erlernbar! Und in diesem Lernen liegt ein merkwürdiger ästhetischer Reiz. Er geht nicht unwesentlich mit der Erkenntnis einher, dass die eigenen, handgeschriebenen Notizen zunehmend den Kritzeleien eines Wahnsinnigen wie Theodor Almsten oder Johnny Truant zu ähneln beginnen; vor allem aber liegt er darin, dass die Erkundung und das Erlernen der Topo- und Geographie zugleich ein Erlernen von Problemlösungen ist – bevor man dies überhaupt versteht.

Die wesentliche Tugend von Year Walk ist,

dass es 100% bullshitfrei ist.

Dass die Navigation so eigenwillig und desorientierend ist, stört nicht, weil die ersten herumirrenden Schritte zugleich Schritte zur Lösung von Problemen sind. Ich bin mir ehrlich gesagt nicht einmal sicher, ob wir es hier mit einem komplexen System zu tun haben. Die Welt von Year Walk ist äußerst verdichtet, ja geradezu simpel: Worauf man seine Hände legen kann, darin liegt auch Bedeutung, ob wir es wissen oder nicht. Am Anfang ist dies noch unklar – auch ich hatte Probleme mit der Puppe. Doch wenn irgendwo in der Mitte des Spiels plötzlich der Finger entflammt, weiß man, wo man hingehen muss, schlicht deshalb, weil man zuvor schon wiederholt und ahnungslos in einem dunklen Vorratsschuppen gestanden ist. Walking, seeing is learning, in einem Ausmaß, das ich selten in einem Spiel erfahren habe – auch wenn Ähnliches etwa vom Adventure-Genre bekannt ist. Die wesentliche Tugend von Year Walk ist es aber, dass es 100% bullshitfrei ist: Es gibt keine billigen Ablenkungsmanöver, keine überflüssigen ausladenden Lokalitäten, in denen das metaphorische Schloss zum eben gefundenen metaphorischen Schlüssel sich vielleicht befinden könnte: Alles ist eins, alles ist, wenn nicht überschau-, so doch erlernbar. Und, wie du sagst: Dass dies eine absolut glaubwürdige Reflektion der Erfahrung des (nicht-existenten) Protagonisten ist, macht die Größe dieses kleinen Spiels aus.

Ich glaube im Übrigen nicht, dass du oder jemand sonst verdorben wurde durch den First-Person-Shooter. (Obwohl ich zugegebenermaßen mit einer gewissen Genugtuung die Diskussion um seine Beschränktheit verfolge, die im Zuge von BioShock Infinite aufgeflammt ist.) Genres wie das Adventure und Puzzle-Spiele stehen nun einmal, im Gegensatz zum Shooter absolut quer zur momentan herrschenden Ökonomie und Sensibilität zu stehen: Wenn wir Stunden mit Spielen verbringen, dann im Stakkatorhythmus der instant gratification; die Kontemplation, das Sitzen vor dem Schirm, während nichts außer unserem Hirn aktiv ist, wirkt im Moment schlicht unzeitgemäß, zumal das nächste Spiel immer schon lockt. Das Problem ist noch nicht einmal die Zeit, die diese Spiele in Anspruch nehmen, sondern die Abkürzungen, die sie erlauben. Dass du dieser Verlockung – schon rein aus professionellen Gründen – nicht widerstehen kannst, kann ich dir nicht übel nehmen, auch wenn der Reiz von Year Walk für mich gerade darin bestand, dass es in mehrfachem Wortsinn aus der Zeit gefallen schien.

Erlaube mir, dass ich zum Schluss über den Schluss dieses Spiels spreche: Ich empfand diesen weniger als Stachel im Fleisch denn als Stoß vor den Kopf. Dabei meine ich nicht das erste „Game Over“, das in seinem Plädoyer für die Macht des Schicksals und der ambigen Rolle der persönlichen Schuld darin an meine katholisch geprägten Sensibilitäten appellierte. (Die hiesige Sagenwelt ist unerbittlich mit ihren Sündern und Abweichlern, die dazu verdammt werden, in einer Gletscherspalte ihre Sünden abzubüssen und allenfalls, wenn sie unendlich glücklich sind, durch einen aufopferungsvollen Anderen, jedoch nie aus eigener Kraft, Erlösung finden können.)

Interessant: Vermutlich hat die Verankerung im Sagenhaften in mir alle Erwartungen auf ein Happy End, auf dessen Herbeiführung aus eigener Kraft, abgewendet. In einer düsteren, vergangenen Welt wie dieser konnte ich nicht hoffen auf einen positiven Ausgang der Geschichte – zumindest nicht, bis mir in der Companion-App eine in Aussicht stellte. Die Abwendung des Schicksals – die ultimative Power Fantasy? Umso irritierter war ich dann aber, als ich dieses Kästchen – das einzige Element dieser Welt, zu dem das Spiel keinen Schlüssel an die Hand gibt – öffnete: Nicht der Inhalt dieser alternativen Erzählung verstimmte mich, wohlgemerkt – wie gesagt, ich bin vertraut mit dem Gedanken, dass die Erlösung nur durch ein Opfer erreicht werden kann. Es war die Form, die mich zurückstieß, die Tatsache, dass alles reduziert wird auf einige Bilder, und Schwärze. Ich war überzeugt davon, noch einmal durch diesen Wald wandern zu müssen, den Wächtern erneut zu begegnen, aber mit neuem Wissen, dass mich die Welt und ihre Beobachter neu erleben ließ.

Stattdessen … ein Abspann, dem ich so sehr misstraute, dass ich selbst zum Gamedesigner wurde: Ich habe versucht, die Credits aufzuhalten, mit den Mitteln, die ich von diesem Spiel gelernt habe. Ich habe versucht, sie zurückzuspulen mit gegenläufigen Fingerstrichen, ich habe das Gerät auf den Kopf gestellt in der Hoffnung, sie würden herunterfallen zu ihren Anfängen, ich habe, wortwörtlich, versucht mit dem Finger das The End zu durchkreuzen. Wie großartig wäre es gewesen, wenn die Metaebene auf diese Weise tatsächlich mit dem Tun und Handeln im Spiel verknüpft gewesen wäre? Vielleicht aber auch… ramblings and doings of a madman: Vielleicht wollte ich nur tiefer hinabtauchen in diese Welt, dieses Mysterium, in immer verschachteltere und vetracktere Ebenen von Realitäten und Wahnsinn. Vielleicht wollte ich nur nicht akzeptieren, dass ich mich nicht weiter verlieren kann in dieser Welt.

Als nichts funktioniert hat, als das The End wieder und wieder verblasste und ich auf den Anfang zurückfiel, zögerte ich kurz, für einmal tatsächlich im Internet nachzusehen, ob dies das tatsächliche zweite, endgültig Ende ist. Ich habe beschlossen, es zu lassen, und mir damit die Gelegenheit, weiterhin zu glauben an ein ungebrochenes, verschlossenes Mysterium, mehr Spiel, mehr Erfahrung, mehr Mysterium. Den Glauben an eine Möglichkeit, tatsächlich mit dem Messer den endgültigen Strich durch meine eigene Kehle zu machen und damit durch die Rechnung, die dieses düstere, großartige Universum mit seinem Spaziergänger gemacht hat. Gibt es ein New Game+, über diese kurze Sequenz hinaus? Ich weiß es nicht. Ich will es nicht wissen. Falls es so etwas gibt, eine weitere Umdrehung der Schraube, will ich nichts davon wissen. Ich will sie erfahren. Ich will sie entdecken.

Wird am Mobile Gaming gar die Games-Welt genesen? Die Welt ist für mich, wie gesagt, leider kein Quantenmärchen (wie mühelos dieses Spiel Folklore verbindet mit der Viele-Welten-Theorie, wurde noch nicht einmal angesprochen), die Zukunft ist mir verborgen. Insofern bleibt mir nur die Hoffnung – darauf, dass zumindest eine meiner persönlichen Zukünfte noch weitere Überraschungen wie Year Walk bereithalten wird.

Vorsichtig zuversichtlich,

Christof

PS Falls sich die Zukunft wirklich ähnlich gnädig zeigen wird, zögere nicht, es mir mit einem erneuten Briefwechsel heimzuzahlen – ich danke für Lesen, Schreiben, Geduld und Gedanken.

PPS Ich habe mir Towlr angeschaut. Mein Hirn, es bettelt um Gnade und hat dich, wenn ich das richtig verstanden habe, einen Lump geschimpft (die Verbindung war leider nicht besonders gut).

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Lieber Christof,

du hast völlig Recht: Das "wirkliche" Ende von Year Walk bleibt unter seinen Möglichkeiten. Wie toll wäre es gewesen, dem Spieler nochmals den gesamten Walk zu bieten, mit kleinen, aber bedeutsamen Abweichungen? Dein Schlagwort vom New Game+, es wäre gerade auch inhaltlich und ästhetisch der perfect fit für ein derartiges Zeitreise- und Dimensionsverwirrspiel gewesen.

Mir Radikalem wäre es ja sogar noch recht und billig gewesen, wenn man als Spieler ein weiteres Mal durch das gesamte Year Walk gescheucht würde und selbst in Verbitterung bemerkt hätte, dass sich auch mit dem neuen Wissen nichts zum Guten wenden lässt - der Mord geschieht, die Berichte in den Archiven meißeln die Geschichte in Stein. Oder noch besser: Was, wenn erst mit dem durch unser Eingreifen als Almsten gefundenes Messer der Mord erst ermöglicht würde? Ein 12 Monkeys angemessener Mindfuck, mit dem Spieler in seiner ewigen Suche nach dem Happy End als Komplizen - DAS wäre ein Aha-Effekt gewesen, den so bislang kaum ein Spiel geboten hätte.
 
Doch ich bemerke, dass ich ungerecht werde, indem ich mir mehr erträume als das, was angeboten wird - und das ist schon nicht wenig. Es gibt bereits einen Mindfuck in Year Walk, und er übersteigt sogar die Grenzen seines Mediums und lässt uns hinterfragen, was wir hier gerade tun, wenn wir ein Spiel spielen: Sehen wir den Year Walk des Müllergesellen Daniel Svensson? SIND wir Daniel Svensson? Sind wir im zweiten Durchgang Theodor Almsten? Verändern wir die Geschichte? Wie oben angesprochen wären hier noch Haken und Ösen für weitere, noch abgründigere Antworten, doch Simogo belassen es bei einem einzigen Salto. Vielleicht verständlich angesichts der Tatsache, dass wohl wie sonst auch im Feld nur ein Drittel der Spieler jemals das Ende des Spiels sehen werden - geschweige denn das zweite und von mir oben herbeifantasierte dritte Ende!
 
Es ernüchtert mich hin und wieder, dass die Erwartungen der Spielerschaft an ihr Medium erfahrungsgemäß so niedrig sind, dass es sich wohl für viele Entwickler nicht lohnt, diese Erwartungshaltungen subversiv zu unterlaufen - einem Großteil der Spieler fällt es wohl schlicht nicht auf, wenn ein Spiel etwas Cleveres versucht, ohne es in Großbuchstaben auf der Packung anzukündigen. (Dazu passt übrigens auch dieses aufschlussreiche Interview mit den Autoren von Spec Ops:The Line und Far Cry 3)
 
Umso mehr Rechtfertigung für Eggheads wie uns zwei, in derartigen Wortkaskaden zu würdigen, wenn ein Spiel, noch dazu ein kleines, unscheinbares, sich daran macht, mehr zu sein, als es den Anschein hat. (Es ist zu hoffen, dass sich alleine wegen dieser unserer Walls of Text der eine oder andere Spieler genötigt sieht, das Spiel nachzuholen, um sich dann, just hier in dieser Klammer, als Mitgrübler wiederzufinden.) Denn für mich ist das der große Erfolg und Triumph von Year Walk: Konstant zu täuschen, Kleinheit und Althergebrachtes vorzuspiegeln und dann mit Neuem und Metaebenen zu überraschen.
 
Die Rätsel, sie mögen nicht die originellsten und besten des Genres sein, das Ende, man könnte es sich noch konsequenter wünschen, und dennoch: Year Walk ist ein Spiel, das seine Spieler ernst nimmt, sie hinters Licht führt und betäubt zurücklässt. Dass es fantastisch aussieht, atmosphärisch rundum gelungen ist und, wie von dir eingangs angesprochen, unverschämt originell die niedere Mythologie zu ihrem Recht kommen lässt, macht es für mich zu einem der Must-have-Titel für jeden iPad-Besitzer, der Spielen etwas abgewinnen kann.
 
Damit ist alles gesagt - ich werfe nur zwecks Symmetrie noch zwei Verweise nach: Zum Ersten den nachgefragten auf Hillsfar, und zum Zweiten einen auf eine  Autorin, die im ähnlichen Halblicht schreibt, in dem auch Year Walk angesiedelt ist: In der Kurzgeschichtensammlung"Jagannath" beweist uns nämlich die - türlich - Schwedin Karin Tidbeck, dass in der kurzen Form großes Vergnügen liegen kann - ein Sinnspruch, den ich mir auch für Spiele öfter in die Tat umgesetzt wünsche.
 
Auf bald,
Rainer
Autor: