Spiel des Monats: Die Untote Pest
Es stimmt schon. Dark Souls ist ein schweres Spiel, ohne Frage. Aber wer seine Faszination ausschließlich darauf zurückführt, dass seine fordernden bis frustrierenden Kämpfe einiges an Zeit und Mühe kosten, verfehlt damit den eigentlichen Kern seines Wesens. Schließlich erfüllen andere Titel die für Lordran gemeinhin konstatierten Alleinstellungsmerkmale wesentlich besser: Bei Super Hexagon oder Super Meat Boy findet sich derselbe Zyklus ewigen Scheiterns und dasselbe Faible für Präzision und Timing, bei Europa Universalis oder Kerbal Space Program derselbe Sprung ins komplexe Wasser überbordender Menüs und verwirrender Zahlen, und fast alle Roguelikes verhalten sich ähnlich wortkarg, was ihre Geschichte angeht.
Was Dark Souls von ähnlich schwierigen, ähnlich komplexen oder ähnlich kryptischen Spielen abhebt, ist seine stille Majestät und die moralische Erziehung, die es uns neben der mechanischen angedeihen lässt.
Die Welt von Dark Souls, wenigstens so viel Hintergrundgeschichte bekommen wir mit auf den Weg, liegt im Sterben. Und zwar schon lange. Als wir auf der Bildfläche auftreten, ist der Verlauf der untoten Pest schon so weit fortgeschritten, dass die meisten Einheimischen nicht nur ihr Leben, sondern auch ihren Verstand an den Fluch ewiger Reinkarnation verloren haben. Angesichts dieser Gesellschaft ist unsere Reise durch Lordran weniger die von Tourist_Innen, als die von Archäolog_Innen, die das Gesamtbild erst aus den Puzzleteilen gefundener Artefakte zusammensetzen müssen.
Das Bewusstsein dieser Rolle, geschärft durch die in Gegenstandsbeschreibungen versteckten Hintergrundinformationen, ist für das Verständnis des Spiels entscheidend, denn es ist die Welt von Dark Souls, die über weite Strecken seine Geschichte erzählt. Eine Welt voller monumentaler Prachtbauten und spektakulärer Naturphänomene, von der gewaltigen Burganlage zu Beginn des Spiels und Anor Londo, einer Stadt die vollständig nach Vorbild des Mailänder Doms entworfen zu sein scheint, bis zu haushohen Kristallformationen und Bäumen, für die nicht einmal ein passender Vergleich existiert. Trotz des fortgeschrittenen Verfalls vieler der Bauwerke und Landschaften auf unserem Weg sind diese kein Symbol menschlichen Hochmuts. Im Gegenteil: Sie sind stilles Zeugnis des unerschöpflichen Willens der eigenen Vergänglichkeit - diktiert durch den erlöschenden Schöpfungsfunken, um dessen Erneuerung es in Dark Souls letztlich geht - die Stirn zu bieten und etwas Erhabenes und Dauerhaftes zu schaffen.
Zwar begegnet nicht ganz Lordran seinem Ende mit jener Stoik, die das Spiel auf den ersten Blick vermittelt: Lost Izalith wird bei dem Versuch, jenen Schöpfungsfunken zu synthetisieren, verwüstet und Anor Londo taucht sich in falsches Zwielicht, um früheren Glanz vorzugaukeln. Dennoch beeinflusst die ständige Größe, mit der uns Dark Souls umgibt, auch wesentlich, aus welchem Antrieb heraus wir das Spiel erforschen. Während Folterinstrumente wie I Wanna Be The Guy hoffen, dass wir sie aus purem Trotz niederringen, appelliert Dark Souls an unser ästhetisches wie moralisches Empfinden, unseren Ehrgeiz und wohl auch unsere Scham. Denn wie sich noch ernst nehmen, wenn wir im Angesicht dieser großen Werke klein beigeben? Wie sich niederwerfen lassen, wenn unsere gesamte Umgebung sich still gegen ihr Schicksal auflehnt?
Sehen wir mal von den Schwertern, Drachen und Feuerbällen ab, die der Massentauglichkeit des Produkts geschuldet sein dürften, so lässt sich Dark Souls wohl am besten als Videospielumsetzung von Albert Camus’ Roman Die Pest verstehen, der anhand einer fiktiven Epidemie und der Reaktionen der in der Stadt Oran lebenden Menschen ein vielfältiges Sittenbild von unserem Umgang mit existentiellen Bedrohungen zeichnet, das von Gier, Hedonismus und Verzweiflung bis zur uneingeschränkten Selbstlosigkeit und Opferbereitschaft alles abdeckt.
Dass Dark Souls diese Seuche um die ewige Gefangenschaft im untoten Körper bereichert, mag neu sein - ein durchaus gelungener Kniff, um die mechanischen Notwendigkeiten des Spiels in die Geschichte einzubetten - aber letzten Endes befassen sich beide Werke mit der überraschenden Standfestigkeit der Menschheit gegenüber Elend, Verfall und grausamen Schicksalsschlägen, und beide zeichnen ein trotz aller Irrwege und Fehltritte ihrer Protagonisten durchaus optimistisches Bild, was unser Verlangen nach Gemeinschaft und Solidarität in der Not angeht.
Selbst in so kleinen Details wie der Botschaft nach unserem Ableben lässt sich das humanistische Gedankengut des Spiels erkennen. “You Died,” drückt es Dark Souls aus, wohl auch deshalb, weil die gebräuchliche Alternativen “Game Over” und “Continue?” irreführend wären. Es ist nicht vorbei und unser Weitermachen steht auch nicht in Frage. Ohne dass wir auf einen einzigen Knopf drücken müssten, erscheint unsere Spielfigur unversehrt am letzten Leuchtfeuer - auch das kein Zufall - zunächst in kniender Position, bevor sie sich erhebt, um sich den kommenden Herausforderungen erneut zu stellen. Entscheidend für Dark Souls ist nicht, dass es uns immer wieder niederwirft, sondern dass es uns dazu bewegen möchte, immer wieder aufzustehen.
Deshalb auch die ständige Präsenz anderer Spieler durch Notizen, Blutflecken und Beschwörungsrunen, um uns daran zu erinnern, dass unsere derzeitigen Herausforderungen weder unüberwindbar noch wir mit ihnen alleine sind. So unangenehm auch die ungebetene Gesellschaft im Fall von Invasionen sein mag, macht die Gelegenheit zu irreführenden Nachrichten und heimtückischen Angriffen es umso erstaunlicher, dass die meisten Spieler_Innen sich anders verhalten. Selbst als alter Eigenbrötler lade ich hier wie selbstverständlich wildfremde Menschen in mein Spiel ein, um nach respektvoller Verbeugung gemeinsam loszuziehen.
Dark Souls quält uns eben nicht aus reiner Bösartigkeit, sondern um uns zu erinnern, dass sich dieses Leid gemeinsam leichter tragen lässt. Die Kontrapunkte, die es setzt, durch seine relative Einsamkeit und Stille, steigern nur umso mehr unsere Wertschätzung jedes Funkens an Menschlichkeit, der uns begegnet, und unsere Entschlossenheit, mehr davon in die Welt zu tragen. Wie bei Andre dem Schmied, der trotz der vermeintlichen Sinnlosigkeit seines Schaffens sein ständiges Hämmern höchstens unterbricht, um uns ein paar freundliche Worte zu spenden.
Die vielen Seiten Manuskript, die Joseph Grand in Die Pest schreibt, entpuppen sich gegen Ende des Romans als endlose Revisionen des ersten Satzes, aber zu diesem Zeitpunkt verstehen wir bereits, dass es sich hierbei keineswegs um sinnlose Mühen handelt, ebensowenig wie bei den endlosen Wiederholungen auf unserem Weg durch Dark Souls. Es ist eine Akt von Menschlichkeit und Idealismus: das Streben nach Vollkommenheit in einer unvollkommenen Welt.